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Vorgeschichte - Niaji Salaar


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Der Weizen glänzte golden in der Sonne, während ein kleines niedliches Mädchen zwischen den Halmen und dem Schimpfen ihres Vaters über das sommerliche Feld hüpfte. Sie war noch zu klein zur Arbeit, wurde ihr immer gesagt. Also suchte sie sich eben andere Beschäftigungen, wie zum Beispiel das Verjagen der gefräßigen Raben. Dass hierbei beinahe eben so viel Korn durch ihr Gehüpfe zerstört wurde, wie von den Vögeln gefressen wurde, wollte sie von ihrem schimpfenden Vater nicht hören. Er schimpfe sowieso zu viel, wenn er dieses ekelig riechende Met getrunken hatte. Außerdem mochte er nicht, wenn sie sich mit dem Zigeunermädchen traf, welches vor ein paar Tagen hier bei den Nachbarn eingezogen war. Er sagte immer, dass dieses Kind bestimmt die Tochter einer total fiesen Hexe war, und er gar nicht verstünde, wieso die Nachbarn sich überhaupt darauf eingelassen hatten, dieses Kind nach dem Ableben der Mutter auf ihrem Feld während der Geburt (er hatte einen ganz anderen Ausdruck dafür, wenn er das sagen wollte) zu sich zu nehmen.

Dabei fand Niaji die kleine Rhoana nett. Na ja, ein bißchen komisch war sie schon mal, wenn sie erzählte, dass sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte, aber das erzählte Niaji zu Hause niemandem. Wer weiß? Vielleicht würden sie dann ja nie wieder zusammen spielen können. Außerdem zeigte Rhoana ihr auch immer ganz interessante Sachen, die sie zu Hause so bestimmt nicht gesehen hätte. Obwohl sie auch nicht immer alles hatte sehen wollen, was ihr da gezeigt wurde. Tote Tiere auseinandernehmen machten ihre Eltern zwar auch, aber eigentlich nur um daraus was Leckeres zu kochen. Sie wühlten nicht darin herum und erfanden dann Geschichten von irgendwelchen Geistern. An solchen Tagen konnte Niaji abends wieder ganz schlecht einschlafen.

Genau an diesem herrlichen Sommertag traf sie wieder auf die ernste Rhoana, die eine Krähe in Form einer Sonnenblume seziert vor sich auf dem Boden liegen hatte. Eigentlich hatten sie doch heute zusammen eine hübsche Kette basteln und nicht wieder irgendwelche Tiere zerschneiden wollen. Sie schüttelte sich innerlich, obwohl sie ja zugeben mußte, dass ihre Freundin sich wirklich Mühe gegeben hatte das Tier hübsch zu zerlegen. Sogar ein paar Klatschmohnblütenblätter umrahmten das tote Federvieh. Niaji schaute mit einer seltsamen Faszination zu, als Rhoana gleich nach ihrer gewohnt ernsten Begrüßung gleich damit begann die Knöchelchen mit einem kleinen Werkzeug aus ihrer Verankerung mit dem restlichen Skelett zu lösen und an einen interessant aussehenden knorrigen Stock zu flechten. Das Holz schien schon längst von Holzwürmern zerfressen worden zu sein, doch sah es nicht so aus, als sei es darüber morsch geworden.

Sie tat dies mit vielen feierlichen Worte, so dass Niaji begann zu kichern, es aber schnell wieder sein ließ, als ihre Freundin sie so strafend anschaute. So gluckste sie nur stumm in sich hinein, wenn diese gerade nicht zu ihr schaute. Aber selbst dies verging ihr langsam während sie merkte, dass es kühl und finster wurde. Es war doch sonnig heute, und doch hing einen einzelne, winzige dunkle Wolke am Himmel und tauchte nur diese eine Ecke am Rande des Weizenfeldes in Schatten. "Niaji, liebste Freundin.", begann Rhoana sie feierlich anzusprechen, und Niaji schreckte aus ihren Gedanken heraus und schaute wieder zu Boden. Rhoana sprach fast wie eine Erwachsene zu ihr, wenn sie zusammen waren. Da fühlte sie sich so groß und ernst genommen. Keiner schimpfte mit ihr. "Heute werden wir Abschied voneinandern nehmen müssen, denn meine Mutter ruft nach mir."

In Niajis Hals bildete sich ein Kloß, der sich nicht recht runter schlucken lassen wollte. Auch ihr Bauch verkrampfte sich dabei, denn was sollte das jetzt bedeuten? Wollte Rhoana weggehen?

"Ich werde diesen Sonnenuntergang nicht mehr erleben, und ich bin stolz dass Du immer zu mir gehalten hast, wenn andere mich verhöhnten."

"He, Anni, laß das. Du machst mir Angst."

"Scht, Jiji. Ich möchte, dass Du mir genau zuhörst. Du hast das Talent in Dir, welches Mutter gern mir weitergereicht hätte. Aber es sucht sich seine Erben auf andere Wege."

Niaji wollte aufspringen und weglaufen, doch Rhoana packte sie barsch am Handgelenk. "Anni, das tut weh", maultie sie. Doch die ließ nicht los. "Jiji, hör mir einfach zu", sagte sie eindringlich. "Du mußt mir etwas versprechen!", und fügte nach kurze Pause hinzu: "Bitte!"

Niaji ließ sich wieder niedersinken. So ernst hatte sie Rhoana wirklich noch nie erlebt. Und weh getan hatte sie ihr auch noch nie. Vielleicht hatte Papa ja doch recht, und sie hätte nicht hierher kommen sollen.

Plötzlich zuckte Rhoana ein Messer hervor, dessen Klinge zwar metallisch glänzte, aber einen sanften Grünton hatte. Niaji erschrak, doch im gleichen Moment drehte Rhoana die Klinge auch schon von ihr weg und reichte ihr das Heft herüber, ließ aber die Klinge nicht los als Niaji danach ohne zu überlegen griff.

"Ich habe den Tod betrogen, Jiji. Frag nicht wie, denn das verstehst Du noch nicht. Ich habe keine Mutter, meine Kleine, denn meine Mutter bin ich selbst gewesen. Ich litt fürchterliche Schmerzen in meinem faulendem Leib. Es hat mich Unsummen gekostet die Kraft zu erforschen, die mich einen neuen Leib erschaffen lassen konnte. Ich mußte diesen Leib jedoch mit meinem verbinden um meine Seele hinein retten zu können. Dies hier ist der Leib, den ich erschuf. Und ich wollte lieber wieder als Kind beginnen, denn am lebendigen Leib zu verfaulen. Aber es hat nicht funktioniert. Auch dieser Leib beginnt zu zerfallen. Viel früher... Viel zu früh. Ich kann mir keine Nachkommin gebären, weil ich noch ein Kind bin, wie Du."

Niaji schaute Rhoana mit offenem Mund staunend an. Sie hatte schon sehr viele Geschichten von ihrer Freundin erzählt bekommen, aber heute übertraf sie sich selbst. Rhoana legte in einer tröstlich wirkenden Geste ihre andere Hand über Niajis Hand, welche noch immer das Heft umklammert hatte, so dass sie dies nun nicht mehr loslassen konnte.

"Daher will ich, dass Du deine Gabe nutzt. Und hierfür werde ich Dir ein Geschenk machen. Dieses Messer sollst Du von mir in Ehren halten, selbst wenn mein Leib vergangen ist, und dieser Stab soll meine Kraft in sich ziehen, wie er mein Blut trinken wird. Jiji, ich wäre gern mit Dir aufgewachsen, aber ich möchte diese Schmerzen nicht wieder erleben."

Ruckartig riß sie mit beiden Händen an Niajis Hand, und das Messer fuhr ihr mit einem schmatzendem Geräusch in die Brust. Niaji schrie entsetzt auf!

Rhoana lächelte ihre Freundin sanft an, während das Blut aus ihrer Brust über ihre Hände glitt, welche sich nun völlig verkrampft hatten. Niajis Kehle schmerzte vor Entsetzenslauten, und auf dem Feld war hektische Betriebsamkeit ausgebrochen, während ein Windzug die dunkle Wolke am Himmel zerfaserte. Rhoana sank in sich zusammen, und endlich lockerte sich der stählerne Griff um Niajis Hand, doch noch während sie davonlaufen wollte, standen bereits die Nachbarn bei ihr und ihrer toten Ziehtochter. Niaji stand stumm und gelähmt vor ihnen. Die Finger ihrer Hand klebten von dem Blut ihrer Freundin. Sie wollte irgendwas sagen. Einfach etwas, was den Zorn aus diesen Gesichtern über ihr hätte vertreiben können, doch sie konnte es nicht.

Seit diesem Tag hatten die beiden Nachbarfamilien nie wieder miteinander gesprochen. Doch jedes Mal, wenn sie sich irgendwo begegneten, war der offene Haß zwischen ihnen zu spüren.

Nach wenigen Taiai war eine Tistiim-Geweihte durch ihr Dorf gekommen, und wie sie das große Unglück dieser beiden Familien sah, betete sie oft dafür die beiden Häuser wieder mit Glück bescheren zu können. Eines Tages entschloß sie sich sogar, es statt bei den Erwachsenen es gleich bei dem Kind zu versuchen, dass den ganzen Ärger ausgelöst hatte. Und wie sie das ganze Geschichte von Niaji heraus hatte, tröstete sie die Kleine mit vielen Worten und versprach ihr ein Geschenk. Niaji war entsetzt. Sie wollte nicht wieder ein Geschenk!

"Ach, Dummes Kind!", lachte die junge Priesterin. "Ich will Dir Glück schenken."

Und so nahm sie die verwirrte Niaji bei der Hand und erzählte ihr, dass es eine Kraft gäbe, die nur Tistiim selbst ihr bringen könnte. Diese Kraft würde sie ihr schenken, und weil diese Hand ihr so viel Unglück gebracht hatte, so wollte sie diese Hand nun mit Glück bescheren. Ein Zeichen von Tistiim wollte sie ihr geben, auf das ihrer Hand nur noch Glück beschert sei.

Die junge Frau besprach sich mit den Eltern am Abend, und Niaji war es etwas flau im Bauch, als sie morgens anscheinend immer noch bei ihnen zu Hause war. Außerdem hatte sie komische Sachen auf dem Tisch ausgebreitet, die sie gar nicht Vertrauen erweckend oder glücksbringend empfand. Das waren nach ihrem Geschmack zu viele Nadeln, und als ihr Vater sie mit steinerner Miene empfing, fühlte sie sich noch unwohler.

Das war aber alles nichts gegen das heftige Stechen und Pieksen, als die Frau ihr mit den Nadeln eine Tätowierung in ihren Handrücken stach. Sie kam sich bestraft vor, doch waren die Schmerzen ungewöhnlich schnell verklungen, nachdem die Frau ihr am Vormittag mit seltsamen Worten über die wunde Stelle strich. Danach beugte sie sich zu ihr, und sagte ihr leise ins Ohr, so dass ihre Eltern es nicht verstehen konnten: "Vertraue auf Tistiim, und Dir wird Glück beschert."

Niaji versuchte sich diesen Ratschlag zu Herzen zu nehmen, und wünschte sich jeden Tag, dass doch dieser Zustand endlich aufhören würde. Immer war sie Mittelpunkt diese haßerfüllten Blicke, und sie konnte es einfach nicht mehr ertragen.

Und irgendwie schien sich tatsächlich etwas geändert zu haben. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, denn seitdem sie diese Tätowierung hatte schien zumindest der Nachbar wieder besänftiger zu sein. Er wirkte zwar ein wenig eingeschüchtert, als sie ihn ein paar Tage später mit hochrotem Kopf aus dem nahen Wald kommen sah, aber er hatte ihr zumindest zugewunken. Auch die Priesterin schien zufrieden zu sein, als sie dann bei ihr in der Lichtung eintraf, wo sie früher mit Rhoana mal ein Kaninchen mit einer selbst gebastelten Falle gefangen hatten.

"Du lächelst ja endlich wieder", hatte sie zu ihr gesagt. Sie hatte ihr nichts darauf antworten können, sondern einfach nur genickt. Und dann kam es über sie, und sie erzählte ihr ohne etwas auszulassen von Rhoana und ihren letzten Tag. Sie fühlte sich anschließend viel freier, und das Lächeln der hübschen Frau schien zu bestätigen, dass sie selbst sich besser fühlte. "Weißt Du denn noch, wo dieser seltsame Stock ist, Jiji? Ich darf dich doch auch so nennen, oder? Wir sind doch jetzt auch Freundinnnen". Ihr Lächeln füllte Niajis Bauch mit wohliger Wärme, und sie nickte, obwohl sie das eigentlich nicht wollte. Nur Rhoana durfte sie so nennen, aber wie sollte sie das wieder zurück nehmen? Es war halt passiert, und sie setzte ein freundliches Lächeln auf, als sie antwortete: "Der liegt bestimmt immer noch drüben bei den Bäumen, wo Anni ... gestorben ist."

"Kannst du ihn mir zeigen, Jiji? Ich würde ihn gern jemandem zeigen, den ich von früher kenne". So alt sah sie doch auch nicht aus, fand Niaji, dass sie von früher spricht. Aber Erwachsene waren immer so komisch. "Klar!", sagte sie nur. Aber sie fühlte sich schon etwas unbehaglich, als sie die Frau zu der Stelle führte, wo sie ihre Freundin ermordet, nein wo ihre Freundin sich selbst... Rasch verdrängte sie diese Gedanken, denn sie wollte nicht zeigen, wie unwohl sie sich fühlte. Der Stab selbst befand sich zum Glück nicht mehr genau dort, wo das Unglück passierte, sondern schon ein paar Schritte davor. So mußte sie wenigstens nicht nochmal da hin gehen, wo Annis Blut ihre Hand verklebt hatte.

Niajis Blick fiel auf ihren Handrücken. Es mochte zwar ein Glücksbringer sein, aber er erinnerte sie auch immer wieder daran, dass diese Hand das Messer gehalten hatte, welches das Herz Rhoanas durchbohrte hatte. "Komm!", hörte sie nur und war dankbar, dass sie endlich wieder hier weg durfte.

Niaji dachte über den Tag selten nach, während die nächste Zeit ins Land ging, bis eines Tages die junge Priesterin wieder im Ort eingekehrt war. Sie war ein wenig dicker im Gesicht, fand Niaji. Aber das stand ihr eigentlich ganz gut. Der Nachbar schien das sogar noch sehr viel mehr zu finden, denn sie hatte die beiden schon heimlich beobachtet, bevor die Priesterin zu ihr nach Hause kam. Bei der Lichtung hatte sie die beiden gesehen, aber leider nicht hören können, was sie flüsterten. Aber er machte einen glücklichen Eindruck und betrachtete die dicklich wirkende Priesterin immer wieder herzlich auf Bauch und Hüften blickend.

Daheim wollte sie gleich die Frau mit Fragen bestürmen, wurde aber rasch mit einem "Scht, Jiji" ruhig gestellt, als sie das Haus ihrer Eltern betrat. Und als sie es gar nicht mehr aushalten konnte, wurde sie zum Spielen nach draußen geschickt, da sie so unruhig wäre, und nur störte. Mutter war noch im Ort etwas einkaufen, und er wollte sich bitte schön endlich mal allein unterhalten. Maulend verließ Niaji das Haus, schlich sich aber gleich unter das Fenster, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen, was aber schwer war da sie nur in Rätseln zu sprechen schienen und kurze Zeit danach die Läden sogar rasch geschlossen wurden. Danach konnte sie von drinnen kein Gespräch mehr hören, so dass sie es nach einiger Zeit doch vorzog etwas zu spielen.

Sie erschrak sich ein wenig, als die Priesterin dann bei ihr stand. Sie hatte sie gar nicht kommen gehört, obwohl sie doch ein wenig außer Atem schnaufend bei ihr stand. Niajis Blick ging kurz zum Haus ihrer Eltern, an dem gerade die Läden wieder aufgestoßen wurden. So weit war es doch gar nicht, dachte sie sich. Oder war sie etwa zu ihr gerannt? "Na, Jiji. Jetzt will ich Dich aber auch nicht länger warten lassen. Ich habe mir etwas über den Stock sagen lassen, der Dir gehört. Das darfst Du deinem Papa aber nicht erzählen, ja? Ich glaube nämlich, dass deine Freundin Anni recht haben könnte. Und ich habe meinen Bekannten mitgebracht. Du darfst Dich aber nicht erschrecken, ja?"

Während dieser Worte waren sie zu dem Wagen gegangen, mit dem sie hierher gefahren war. Niaji überlegte. War die Priestin nicht zuletzt nur mit einem Pferd hier gewesen? "Das ist sie", sagte sie zu der Wagenplane. Diese teilte sich, und gab das Gesicht eines fürchterlich aussehenden Mannes frei, der nach Niajis Geschmack noch viel älter aussah, als der alte Druide drüben beim See. Er hielt den knorrigen Stock in seinen Händen und betrachtete Niaji einige erschreckende Sekunden lang.

Seine Stimme klang wie altes Herbstlaub, als er sprach: "So etwas gibt es nicht oft, kleine Dame. Du solltest stolz sein, dass Du eine solche Lehrerin haben durftest, die solche Macht ihr eigen nannte". Er schüttelte mit herben Lachen den Kopf. "Aber sie wird schon wissen, was sie tut, wenn sie einem Kind wie Dir diese Bürde auferlegt. Daher habe ich mich entschlossen Dich zu mir zu nehmen um zu vollenden, was sie begonnen hatte."

Niaji starrte den Mann an. Der redete doch totalen Unsinn. Sie will doch nicht von hier weg, und schon gar nicht zu solch einem unbekannten Lumpensammler. Sie wollte eigentlich nur noch weglaufen, doch dann sagte die Priesterin neben ihr: "Ich habe alles mit Deinem Vater geklärt, Jiji. Du darfst mit, und wenn es Dir nicht gefällt, bringt Learog", ihr Nicken deutete auf diesen stinkenden alten Kerl, "Dich wieder nach Hause". Jetzt war Niaji völlig überfordert. Ihr Vater wollte, dass Sie mit diesem Bettler mitging? Wieso sagte er es ihr nicht selbst? In ihrem Rücken spürte sie bereits das drängelnde Drücken der Hand der Priesterin. "Versuch es einfach mal ein paar Daoi. Ihr werdet Euch schon verstehen. Und Du kannst immer wieder nach Hause, wenn Du willst."

Vielleicht hatte die Priesterin dies sogar tatsächlich geglaubt, als sie das sagte. Aber irgendwie war das kommende Leben bei Learog nicht das, was sich Niaji unter "gut gefallen" vorgestellt hatte. Irgendwie kam sie sich vor, wie eine Leibsklavin dieses alten schrumpeligen Kerls, mußte sie doch nach und nach immer mehr häusliche Pflichten übernehmen, während er seinen magischen Studien nachging. Sie selbst erfuhr hiervon viel weniger, als er ihr versprochen hatte, lernte aber dafür Orte kennen, die ihr mit Sicherheit Rhoana auch noch gezeigt hätte. Die schwerste Arbeit war das Exhumieren. Nicht, weil sie es nicht gemocht hatte, sondern einfach weil das Schaufeln selbst solch eine Knochenarbeit war, dass sie gar nicht dazu kam diese Arbeit zu hassen.

Das Ganze steigerte sich immer mehr, bis sie eines Tages völlig übernächtigt durch sein Labor stapfte, und innerlich wünschte, hier endlich raus zu kommen. "Bitte Tistiim, flehte sie innerlich. Laß mich endlich wieder nach Hause kommen". Und so unachtsam wie sie war, trat sie auf ein glitschiges Irgendwas auf dem Boden, stolperte vorwärts, und das Geschirr löste sich in hohem Bogen von der Hand und flog auf den Labortisch zu. "Nein!", schrie sie stumm in ihrem Innern. Doch da passierte es auch schon. Krachend schlug sie auf dem Boden auf, den Fuß noch in irgendwas anderem verheddert, und das Geschirr schlug in die Tigel ein wie eine Bombe.

"Du ungeschicktes Gör!", schrie Learog sie an und griff nach seinem hohen Stab. "Dich werd' ich lehren!"

Ängstlich duckte sie sich weg, begann mit einem halblauten "Ich bin gestolpert, Meister... Bitte nicht schlagen.", doch er dachte überhaupt nicht daran sie mit dem Stab zu schlagen, sondern begann den Raum mit einer fürchterlichen Stimme zu füllen, deren Kraft ihr bis in die Glieder fuhr. Geblendet preßte sie ihre Augen aufeinander, dann hörte sie ein fürchterliches Splittern, dass sie daran erinnerte, wie Learog Knochen in seinem Knochenspalter auftrennte, doch den Gedanken konnte sie nicht mehr weiter verfolgen, denn unvorstellbare Schmerzen peinigten ihre Beine.

Als sie erwachte, sah sie Learog mit kaltem Blick über sich stehen. Sie versuchte aufzustehen, doch fühlten sich ihre Beine fürchterlich taub an. Aber sie traute sich nicht sie anzublicken. Dem Geräusch nach hatte er ihr in seinem Zorn wahrscheinlich alle Knochen darin zerbrochen. "Du stolperst mir nicht mehr in meine Arbeit", bemerkte er eiskalt zu ihr und sein Blick wanderte selbstzufrieden auf ihre Beine.

Unwillkürlich folgte sie seinem Blick ebenfalls, jetzt wo er ihr nicht mehr in die Augen sah. Dann hörte sie sich nur noch schreien. Es war blankes Entsetzen, was sie dort sah. Unterhalb ihres Nabels hatte er ihren Körper verwandelt. Erschreckt sah sie das Bild einer Gorgone vor sich: der Unterleib war der einer riesigen Schlange.

Jäh wurde sie mit einer Ohrfeige von ihm ruhig gestellt. "Räum das auf!", befahl er und verließ den Raum mit der Bemerkung: "Ich werde frühstens morgen wieder zurück sein, denn ich muß neue Zusätze einkaufen. Die ziehe ich Dir von Deinem Essen ab."

Damit hatte er den Raum verlassen und sie so liegen lassen, wie sie war. Alles Jammern nutzte nun nichts, denn was würde passieren, wenn er wiederkam und sie es nicht geschafft hatte dieses Chaos zu beseitigen.

Aber so sehr sie willens war aufzustehen, sie schaffte es einfach nicht sich in die Höhe zu erheben. Hilflos zuckte ihr neuer Unterleib durch den Raum, wenn sie versuchte ihn dazu zu bringen sich irgendwie wie ein Paar Beine zu bewegen. Es führte nur dazu, dass sie noch mehr Sachen umstieß, so dass sie nach ein paar Minuten diese kärglichen Versuche aufgab, und sich den Tränen hingab, welche über sie kamen.

So vergingen Stunden, und der Hunger begann an ihr zu nagen. Nur wenige Schritte entfernt lag ja etwas zu essen. Sie mußte nur herüberkriechen. Krachend fiel der Stuhl um, den ihr Schlangenleib erfaßte. Nein, so ging das nicht. Erst mal mußte sie dort hinkommen, und dann könnte sie versuchen dieses ungewohnte Etwas zu bändigen. Bestimmt würde er doch Mitleid mit ihr haben, wenn sie ihm das erzählte, und sie wieder zurück verwandeln.

Also versuchte sie nicht ihre Beine zu bewegen, damit ihr Schlangenleib ruhig blieb und zog sich nur allein mit ihren Armen Stück für Stück näher an das herabgefallene Essen heran. Hastig schlang sie es herunter und fiel anschließend in einen satten erschöpften Schlaf. So viel hatte sie schon ewig nicht mehr gegessen.

Am kommenden Morgen war es ruhig im Haus, und sie verbrachte den Tag damit sich irgendwie aus dieser Lage in eine bessere zu bringen. Vergeblich. Sie schaffte es einfach nicht, ohne dass sie noch mehr zu Bruch gehen ließ. Und doch mußte sie es irgendwie schaffen. Am Abend war sie fürchterlich durstig, doch das einzige was sie in Bodennähe fand waren irgendwelche Tränke, die entweder zerborsten waren, oder fürchterlich stanken. Einer von ihnen hatte noch einen angenehmen Geruch, aber das wollte sie lieber sein lassen. Immerhin waren das Zaubertränke, und es konnte wer weiß was passieren, wenn man so etwas trank.

In der Nacht war ihr Durst bereits so fürchterlich, dass sie damit begann diesen Trank als Tropfen auf ihren Finger in den Mund zu schieben. Sämtliche Bedenken wurden von dem brennenden Gefühl in ihrem Bauch fortgetragen, bis sie irgendwann nicht mehr weiter darüber nachdachte, und die Flasche ansetzte und sie leer trank. Danach fühlte sie sich kräftiger, und schaffte es sogar sich mit den Armen an dem Stuhl und dem Tisch hoch zu zerren, doch automatisch wollte ihr Kopf den Beinen das Signal geben sich nun hinzustellen, und ihr Schlangenleib fegte den Tisch unter ihr mit splitternden Geräuschen fort, so dass sie abermals zu Boden fiel.

Unglücklich schüttelte sie den Kopf, und ließ sich dann niedersinken. Es hatte keinen Sinn. Weinend lag sie lange wach, bis sie ein Geräusch hörte. Es war zu leise für den Hausherr, denn dieser schlich niemals durch das Haus. Vielmehr war er eher immer fluchend über die Schwelle getreten, wenn er heim kam. Sie schaute entsetzt auf die Tür, als diese sich einen Spalt weit öffnete. Undeutlich konnte sie im Licht der Monde eine drahtige Gestalt erkennen, die sich äußerst elegant bewegend hier herumschlich. Eigentlich hatte sie ganz still verharren wollen, doch ihren Lippen entfleuchte ein seit langen angestautes "Mami, hilf mir bitte."

Die Gestalt erstarrte.

Der winzige Lichtschein drehte sich in ihre Richtung. Jemand saugte laut hörbar die Luft ein. "Da soll mich doch...!", entfuhr es dieser Stimme, und anschließend verbreitete sich der Lichtstrahl, um rasch an ihr rauf und runter zu fahren. Niaji begann zu weinen. Sie schämte sich so sehr, dass jemand sie so sehen konnte. Dass es nebenbei ein Einbrecher war, kam ihr nicht mehr in den Sinn. Ihr Unterleib zuckte wild hin und her, als ihre Reflexe die Oberhand übernahmen, und sie eigentlich nur noch fort laufen wollte. Fort von diesem sie so in grausamer Deutlichkeit musternden Lichtstrahl, der sie wieder und wieder abmaß.

Auf einmal fuhr das Licht von ihr weg, verkleinerte sich wieder und tastete über die Stufen unterhalb der Füße des unangemeldeten Gasts, und Schritt für Schritt immer näher, während sie weinend nach ihrer Mutter flehte: "Mami. Ich will nach Hause zu meiner Mami."

"Hey, nicht weinen. Das kann Lombas Sohn aber überhaupt nicht haben. Nein, wirklich nicht. Mannomann, was bist Du bloß für eine? Ich hätte ja nicht gedacht, dass Gorgonen als Kinder noch so hübsch sind. Und jetzt hör endlich auf zu weinen. Du schreckst ja noch sonst wen auf. Was mache ich hier eigentlich? Ich muß verrückt sein, dass ich nicht sofort wieder abhaue. Hey, komm. Is' gut jetzt. Pschtschtscht. Und hör auf um Dich zu ... treten?"

Der Lichtschein lag nun wieder auf Ihrem Unterleib, dann holte die Gestalt mit einem leisen "Ich muß wirklich verrückt sein" einen kleinen Anhänger aus seiner Brusttasche und der Raum war erfüllt von einem lauen Lichtschimmer, während einige Gegenstände glitzernd funkelten. Nur etwa zwei Schritt von ihr entfernt stand ein Halbling, und sie mußte unwillkürlich aufhören zu weinen, wie er da vor ihr stand: ein kurzes Schwert in der Hand und einen Blick halb ängstlich und halb neugierig in ihre Richtung gerichtet. Irgendwie fand sie ihn auf Anhieb sympatisch. Er wirkte auch nicht so sehr erwachsen, wie die Großen immer um sie herum.

"Kannst Du mir helfen?", sprudelte es aus ihr heraus. "Ho! Mal langsam mit den jungen Füllen. Sag mir", seine Augen wurden schmal und sein Blick fürchterlich skeptisch, "was bist Du? Von einem Gorgonenmädchen beim alten Learog hat mir keiner was erzählt. Und ich dachte immer, Euch wachsen Schlangen aus dem Kopf". Seine Hand mit dem Schwert kreiste zur Unterstützung dieser Worte in einer rasche Geste über seinem Kopf.

Sie starrte ihn stumm an, und langsam bahnten sich die Tränen wieder einen Weg. Ein Gorgonenmädchen hatte er sie genannt. Trotzig entgegnete sie ihm mit vorgeschobenen Kinn: "Ich bin ein Mensch!"

Er ging unwillkürlich einen Schritt zurück. "Ho! Ganz ruhig, ja. Ich tu Dir nix. Und Du tust mir auch nix. Ja? So, schau. Ich steck das jetzt weg". Er steckte sein Schwert in die Scheide an seiner Seite, und murmelte "Du bist wirklich verrückt, Lompadil" zu sich selbst. "Siehst Du? Ich hab's weg getan. Also ein Mensch bist Du, ja?"

Sein Blick fuhr an ihr herab. "Ich will ja nix sagen, Mädchen. Aber ich kenne keinen Menschen, der so was da hat". "Er hat ... ich war gestolpert, und dann hat er meine Beine ... er ist so gemein ... Und ich könnte jederzeit nach Hause, wenn es mir nicht gefällt, hat sie mir gesagt. Ich glaub' er hat sie angelogen, und sagt ihr nicht, dass ich nach Hause will". Schluchzend schaut sie ihn an. "Ich will hier weg. Bitte. Wenn er sieht, dass ich noch mehr kaputt gemacht habe, dann ... Er ist so gemein. Ich will zu meiner Mami."

Sein Mund war zu einem großen "O" geformt, wie sie ihn nun schniefend ansah. "Humm, äh...", brachte er hervor und räusperte sich. Sein Blick fuhr durch den Raum, und man sah ihm deutlich an, dass er hin und her gerissen war zwischen der Entscheidung diesen weinenden Haufen Elend vor sich zu helfen, oder doch lieber so viel Beute mitzunehmen, wie er tragen konnte und einfach wieder zu verschwinden. "Ich muß verrückt sein", seufzte er kopfschüttelnd. "Aber bei so einem Scheißkerl, der kleine Mädchen zu Gorg... äh... ich meine so zurichtet, kann man Dich wirklich nicht lassen. Ich bringe Dich zu Deiner Mama."

Er machte eine Bewegung mit dem Kopf, dass sie ihm folgen solle. "Na dann komm. Irgendwie schmuggel ich Dich schon durch die Straßen". Sie senkte den Blick. "Ich kann nicht aufstehen. Meine Beine... ich... das Ding hier gehorcht mir einfach nicht, wie ich will". "Uh, ja. Äja... Kannst Du den deinen äh... ich meine... kannst Du damit einfach ein wenig weniger herumzappeln? Dann kann ich Dich tragen". Seine Stimme klang ein wenig selbstzweifelnd, als er das sagte. Niaji nickte ernst und versuchte - wie zuvor - einfach daran zu denken, dass ihre Beine ganz ruhig und entspannt blieben, und langsam hörte ihr Schlangenleib auf zu zappeln. "Ja, so ist schon besser", nickte er ihr zu.

Es dauerte eine Weile, bis er es schaffte sie so zu halten, dass er sie halb tragen und halb schleifen konnte. Doch endlich setzten sie sich in Bewegung, bis sie an den Trümmern des Tisches vorbei kamen. Niaji sah, dass der alte knorrige Stock darauf gelegen hatte. Was hatte der alte Kerl bloß damit gewollt? Auf jeden Fall wollte sie nicht, dass er damit irgendwas weiter anstellte. Und irgendwie wollte sie ihm auch eins auswischen. "Der Stock da", sagte sie also unvermittelt, "gehört mir. Ich möchte ihn mitnehmen, bitte". Er verdrehte die Augen, doch als sein Blick den Stock ein zweites Mal traf, und dieser im Schein seines Anhängers funkelte und glänzte, nickte er. "Ich werde ihn gleich holen. Aber erst mal laß uns beide hier die Treppen schaffen, ja?"

Nach einigen Minuten waren sie draußen angekommen, und er legte sie so behutsam er konnte neben einer Hauswand ab. "Ich bin gleich wieder da", sagte er und fügte dann in einem aufheiterndem Tonfall "Nicht weglaufen!" hinzu.

Als er etwa 5-6 Minuten später endlich wieder auftauchte, zierte sein Rücken ein prall gefülltes Säckchen. "Du weißt gar nicht, was ich alles zurücklassen mußte, damit ich Dich hier wegbringen kann, Mädchen. Ich muß wirklich verrückt sein". Schnaufend schulterte er sie abermals, und tatsächlich schaffte er es sie aus dem Ort hinaus zu schaffen, ohne dass auch nur irgendwer sie mit einem Blick zu sehen bekam. Niaji war erleichtert, als sie zwischen den Bäumen ankamen.

Er streckte ihr die schweißnasse Hand entgegen. "Jetzt wird's aber endlich Zeit, dass ich mal vorstelle, nich' wahr? Ich bin Lompadil, jüngster Sohn von Lombas, aber trotzdem der Gescheiteste von allen, jawoll". Sie nahm seine Hand entgegen und versuchte dabei sich mit der anderen am Boden in der Waage zu halten, da er sie mit dem Rücken an einen Baum geleht abgesetzt hatte. "Ich heiße Niaji."

Er drückte ihre Hand, und dann schaute er mit großen Augen auf ihren Handrücken, den er zum besseren Betrachten noch ein bißchen zu sich herum drehte. "Bei den Göttern! Du hast ein Zeichen von Tistiim auf deiner Hand. Wie bist Du denn dazu gekommen?"

Sie schwieg bedrückt, und nach einigen Sekunden räusperte er sich. "Ähm, Du hast bestimmt Hunger", versuchte er das Thema rasch zu verdrängen, als er ihren Gesichtsausdruck sah, "und durstig siehst Du auch aus". Er holte einen Apfel aus seiner Tasche hervor und schnitt ihn mit einer raschen Bewegung durch. Niaji starrte auf das Messer in seiner Hand. Die Klinge war eindeutig metallisch, hatte aber einen sanften Grünton. "Hübsch, nicht?", sagte er fröhlich und drehte das Messer hin und her. "Woher hast Du das?", entfleuchte ihr die atemlose Frage. Er räusperte.

"Gefunden."

"Wo?"

"Na, irgendwo. Ich weiß nicht mehr. Lag so herum."

"Das hat meine Freundin mir geschenkt als sie ... starb". Ihr Blick heftete auf dem Messer, und er konnte ein gewisses Entsetzen in ihrem Blick erkennen. Sein Blick wanderte auf das Messer. "Ich tu's erst mal zu den anderen Sachen, ja?", versuchte er es vorsichtig. Rasch warf er es in den kleinen Beutel aus dem der knorrige Stock hervorschaute und reichte ihr dann eine Apfelhälfte. Der Hunger ließ sie darüber hinweg schauen, dass dieser Apfel mit dem Messer geschnitten wurde, dass ihre Freundin hat sterben lassen. Und nun hatte sie von dem Apfel abgebissen, der in der Hand war, welche das Messer geführt hatte. Sie verschluckte sich vor lauter innerlichem Entsetzen und schnappte nach Luft.

Hastig sprang Lompadil auf und versuchte dem um sich schlagenden Schlangenleib zu entkommen, aber gleichzeitig hinter Niaji zu kommen um ihr mit einem Ruck die Brust zusammen zu drücken, so dass der Übeltäter von einem Apfelstück in hohem Bogen aus ihrem Hals flog. Hustend schlang sie die Luft ein, und es dauerte eine Weile, bis der Hals nicht mehr schmerzte. Endlich hatte er auch seinen Wasserschlauch an ihre Lippen gesetzt, und sie trank gierig. Völlig ausgetrocknet kam sie sich vor, als der erste Schluck ihren Hals hinunter rann. Doch nach und nach erstarb der Durst.

"Danke", murmelte sie. "Kindchen, Kindchen. Ho! Du machst mir ja einen ganz schön mitgenommenen Eindruck. Ich glaube, Du mußt mir ein bißchen mehr erzählen worauf ich noch aufpassen tun muß, damit so was nicht wieder passiert. Was war denn los mit Dir?"

Und sie begann zu erzählen. Stunden um Stunden sprudelte es aus ihr hervor. Ihr ganzes kurzes aber ereignisreiches Leben offenbarte sie diesem Fremden vor sich, und er tat nicht anderes als stumm zu nicken oder entsetzt zu schauen. Dann, als sie endlich geendet hatte, nahm er sie in der Arm und ließ ihren Tränen Freilauf, bis sie sich beruhigt hatte. Und selbst dann sagte er noch nichts, sondern strich ihr immer nur übers Haar, bis sie eingeschlafen war.

Am späten Vormittag erwachte Niaji, und unter ihrem Kopf befand sich eine zusammengerollte Decke, und der Rest war ebenfalls unter einer Decke versteckt, wofür sie in diesem Moment sehr dankbar war. Sie versuchte sich mit den Ellenbogen hoch zu stemmen, was ihr nur schwer und eher mißlich gelang, aber zumindest konnte sie so den Ursprung des Wohlgeruchs erkennen, der in ihrer Nase zu einer herrlicher Vorfreude auf ein leckeres Essen heranschwoll: Lompadil hatte anscheinend ein Wildkaninchen gejagt, was er jetzt über einem kleinen Lagerfeuer briet.

Er schenkte ihr ein breites Lächeln, als er ihren Blick sah. "Heute werden wir uns erst mal darum kümmern, dass Du wieder Laufen lernst", begrüßte er sie. "Ich kann Dich ja nicht überall hinschleppen. Und Du willst ja auch sicher nicht immer nur auf dem Boden herumliegen, was? Aber erst mal essen wir was". Er stand auf und half ihr bei ihrem Versuch sich aufzurichten. Dann lehnte er sie rücklings an einen Baumstamm und lächelte wieder. "Ich hoffe, Du hast gut geschlafen?" Er bedeckte mit diesen Worten ihren Unterleib wieder mit einer Decke, und sie nickte. "Na, viel erzählen tust Du ja nicht gerade. Aber das tu ich schon für uns beiden genug, nich' wahr?"

Er lachte ein tiefes herzhaftes Lachen. "So, jetzt wollen wir erst mal sehen, wie wir Deinen brummenden Magen voll kriegen, was?" Mit diesen Worten trennte er Fleisch von dem Braten ab und reichte es ihr kühl pustend weiter. "Das schmeckt vielleicht nicht wie bei feinen Leuten, aber bestimmt ist es besser als nix, will ich meinen." Niaji schlang förmlich das Essen herunter, und beteuerte ihm kauend, dass sie noch nie so etwas Leckeres gegessen hatte. Irgendwo stimmte es auch, wenn sie die gerade vergangene Zeit betrachtete.

Er erzählte ihr während des Essens noch von seiner Familie, doch sie war mit ihren Gedanken meist nicht bei der Sache. So wurde sie mit einem "hörst Du mir überhaupt zu?" wieder auf ihn aufmerksam. "Ich möchte, dass Du jetzt einfach mal folgendes machst, ja?" Er deutete auf die Decke. "Denk nicht an Deine Beine, sondern daran einfach die Decke anzuheben, ja. Tu einfach so als hättest Du schon immer dieses Schlangendingsda. Ändern kann ich daran jetzt eh' nichts, also mußt Du erst mal damit leben, bis Dir das einer wieder wechzaubern kann."

Das nächste, was er von sich gab klang etwas gepreßt. "Ho! Du kannst meinen Hals wieder loslassen... Ja, so... gaaaanz locker..." Er schob ihr Schlangenende von seinem Hals fort, was sich darum gewickelt hatte, als sie versucht hatte ihre Beine anzuheben. "T'schuldige", sagte sie mit gesenktem Blick. "Das wollte ich nicht." Er rieb seinen Hals. "Weiß ich doch, Kindchen. Ich glaube, wir fangen lieber anders an."

Aus diesem einen Tag wurden viele Tage, und sie zählte nach einer Weile nicht mehr mit, doch jeden Tag machte sie Fortschritte beim Üben. Und sie übte auch dann fleißig weiter, wenn er auf Jagd ging. Komisch war natürlich, wenn er Nachts fort schlich. Aber sie sagte nichts dazu, obwohl ihr schon auffiel, dass sein Beutel an einem Morgen praller denn am Vortag wirkte.

Irgendwann war ihr des Schlangenleib so vertraut, dass sie nicht mehr an Beine dachte, wenn sie versuchte ihre untere Hälfte zu bewegen, und endlich schaffte sie es auch aufzustehen und vorwärts zu kriechen. Sie probierte aus, wie ein Wurm schiebend vorwärts zu kommen, dann wieder wie eine Schlange hin und her zu schlängeln. Sie schmunzelte, denn dieses Wortspiel in ihren Gedanken gefiel ihr. Nach und nach bekam sie auch endlich ein Gefühl dafür welche Art der Bewegung sie am schnellsten vorwärts brachte.

So wurde sie an einem Morgen von Lompadil mit den Worten "Wir ziehen los" geweckt, und sie freute sich sehr darauf endlich wieder zu ihrer Mutter zu kommen. Nur ein paar Tagesreisen zu Fuß würden es sein, hatte er gesagt. Und dann hatte er ihr einen Reisebeutel gereicht. "Das ist Deiner. Ich habe eingepackt, was Du brauchen wirst, Kindchen." Irgendwie schien er ein wenig bedrückt an diesem Morgen zu sein, und je näher sie ihrem Heimatdorf kamen, desto seltener sprach er ein Wort.

Dann endlich sah sie den Hof ihrer Eltern vor sich. Und wieder war alles in einem herrlichen goldenen Licht getaucht. Niaji fühlte sich herrlich. Endlich würde sie nach Hause kommen! Sie stürmte laut "Mami! Mami!" rufend auf den kleinen Hof zu. Ihre Mutter riß die Tür von innen auf, und rannte der durchs Feld schlängelnden Niaji freudestrahlend entgegen. "Meine Niaji! Wo bist Du nur gewesen?" Doch kurz vor ihr hielt sie schlagartig an, und ihr Gesicht war von Entsetzen gezeichnet.

Niaji wollte ihrer Mutter in die Arme fallen, doch die wich Schritt um Schritt rückwärts vor ihr zurück. "Mowan! Hilfe!", schrie sie. Ihr Vater, der anscheinend wieder zu viel getrunken hatte, torkelte aus dem Haus heraus, griff sich den erstbesten Gegenstand, eine Mistgabel und lief ebenfalls zu ihnen. Niaji schlängelte unruhig hin und her, bevor sie sich zur Flucht umwandte. Am Ende des Feldes fiel sie Lompadil weinend in die Arme, während dieser das Feld weiter beobachtend ihr über den Kopf strich. "Ruhig, Mädchen. Das kriegen wir schon wieder hin."

Am kommenden Tag hieß er ihr bei ihrem gemeinsamen Lager zu warten, weil er allein unbedingt eine Jagd durchführen müsse, und als sie aus ihrem Säckchen später etwas zu essen nehmen wollte, fiel ihr das Fehlen des knorrigen Stab und des Messers auf. Laut fluchend durchwühlte sie auch seine Sachen, und hätte wohl nicht schlecht gestaunt, welche kleinen Schätze er bei sich trug, wäre sie nicht so furchtbar wütend auf ihn gewesen.

Als er zurückkam, lag alles noch immer auf dem Boden zerstreut, und mit einem Schlag kam sie sich schäbig vor, hatte er ihre Sachen offensichtlich bei sich und ihr wohl anscheinend eigentlich jetzt zurückgeben wollen. Er warf sie vor ihr auf den Boden. "Da!", sagte er knapp und begann schweigend seinen Kram einzupacken. "Geh zu Deiner Mutter. Lompadil, der Vertrauensselige, hat es gerichtet. Lompadil, der jüngste und dümmste Sohn Lompas, hat mit Deinen Eltern gesprochen. Verschwinde. Geh nach Hause."

Zögernd hob sie die beiden Sachen auf und stopfte sie in ihren Beutel. Er hatte ihr demonstrativ den Rücken zugedreht, und so ging sie ohne ein Wort des Abschieds weinend fort. Sie sah nicht, dass ihm selbst die Tränen in den Augen standen.

Die kommende Zeit war Traum und Albtraum zugleich. Sie war wieder zu Hause, doch alles um sie herum war so sorgfältig bemüht sich niemals zu ihrer Erscheinung zu äußern. Es tat ihr weh, dass ihr jeder aus dem Weg ging, obwohl alle ihr gegenüber freundlich waren, sobald sie gar nicht anders konnten, als mit ihr zu reden oder ihr gegenüber zu stehen. Aber sie spürte ihr Unbehagen, wenn sie bei ihr waren. Selbst ihre Mutter war anders, auch wenn sie es sich nicht anmerken zu lassen versuchte.

So begab es sich, dass ihre Mutter eines Tages in Begleitung einer sehr imposanten Erscheinung auftauchte. Er stellte sich ihr als Koldarim, Herr von Mirsza, Bewahrer der Schwingen der Flugfüchse, vor. Das alles war ziemlich viel für ihren Geschmack, und sie nickte ihm also einfach höflich zu und brachte einen leisen Willkommensgruß hervor. "Ich soll Dir helfen das da loszuwerden!", sagte er mit angewidertem Gesichtsausdruck und deutete auf ihr Schlangenende. Ihr Herz machte einen Sprung. Sie sollte endlich wieder Beine haben? "Aber vorher muß ich ganz genau wissen, wie Du dazu gekommen bist. Deine Mutter sagte, dass Dich ein gewisser Learog verändert hat?"

Niaji nickte.

"Gut, dann sollte es nicht all zu schwer sein". Selbstsicher schwang er einen voller Knochen hängenden Stab, und als dabei sein Ärmel verrutschte, sah sie aufgefädelte Gebeine auch um sein Handgelenk. Genau wie bei Rhoana, dachte Niaji, und dann intonierte der hochgewachsene Mann vor ihr uralte Worte, deren Macht sie beinahe zu spüren glaubte. Ein Widerspruch von Licht entsprang seinem Stab und umhüllte ihren Leib, um dann in schillernden Farben wie Wasser zu Boden zu fließen.

Sonst geschah nichts.

Nun ja. Fast nichts. Dieser Mann mit seinen vielen Titel schaute nun ziemlich dämlich drein, fand Niaji. Aber Beine spürte sie nicht, sondern immer noch das mittlerweile vertraute Gefühl des Schlangenleibs. "Das gibt es nicht", brachte er stammelnd hervor. "Ihr seid ein Scharlatan! Ich will mein Geld zurück!", schrie ihre Mutter. Doch er hörte nicht auf sie, sondern erhob abermals die Stimme. Und wieder schleuderte er einen seltsamen Zauber auf Niaji, der ebenso wirkungslos blieb wie der erste.

Schimpfend verscheuchten ihre Eltern den Kerl aus ihrem Haus, aber nicht bevor er zwei Münzen auf den Tisch legte, die Niaji vorher noch nie zu Gesicht bekommen hatte, so viel Wert waren sie. Sie aber stürmte in den Stall und holte aus dem Versteck ihr Messer und den knorrigen Stock hervor. Ein Scharlatan war er nicht, so viel glaubte sie. Und wenn er sie schon nicht wieder zu einem Mensch machen könnte, könnte er ihr vielleicht endlich sagen, was es mit Rhoanas Geschenk an ihrem letzten Tag auf sich hatte.

Da er mehr trottete als zu laufen, holte sie ihn rasch ein. "Herr? Bitte, ich habe eine Frage. Ich habe so einen Stock geschenkt bekommen". Ihre Stimme war belegt. "Und Anni sagte mir, dass ich..." Sie zeigte ihm den Stock, und er sah sie so streng an, dass ihr der Rest ihres Redeflusses im Hals stecken blieb.

"Hör auf mit Deinen Späßen, Kind. So eine Schande wie heute ist mir noch niemals unter gekommen. Das kann nicht das Werk von Learog gewesen sein. Sag ehrlich. Du wurdest so geboren, oder?"

Eingeschüchtert schüttelte sie den Kopf. "Nein. Er war's wirklich. Und er hatte auch den Stock mit Annis Blut in seinem Labor. Irgendwas wollte er damit machen."

Eine dunkle Augenbraue wurde gehoben. "Ein Stock mit Blut? Was soll das, Kind? Habt ihr mich noch nicht genug verhöhnt? Niemand würde einem Kind..." Hastig sprach er ein paar Worte, die sie deutlich an einen Zauber erinnerten, den Learog auch schon einmal sprach, und der Stock schien in ihrer Hand zu kribbeln. Der Blick des Alten war auf den Stab gerichtet, und er schien etwas zu sehen, was sie nicht erkennen konnte. Urplötzlich war seine Stimme ernst, aber nicht mehr abweisend.

"Sag mir ganz genau: wo hast Du diesen Stab gefunden?"

"Anni hat ihn mir geschenkt."

"Wessen Blut ist darin?"

Niaji schluckte, fühlte sie sich nun ertappt. "Anni...", flüsterte sie.

"Wer ist diese Anni?"

"Sie ist... war meine Freundin", gab sie kleinlaut von sich. Und wieder schilderte sie was an jenem Tag geschehen war.

"Du mußt zu uns kommen", sagte er entschlossen. "Hier würde Dein Talent nur verderben, Kind. Solch ein Geschenk. Unglaublich. Laß uns gleich zu Deinen Eltern gehen."

Niaji war etwas verwundert, wie erleichtert ihre Eltern erschienen, als sie mit diesem feinen Herrn, wie sich ihre Mutter plötzlich wieder ausdrückte, weggehen durfte. Und sie versprachen ihr, das sie Niaji ganz oft besuchen kämen. Zu Anfang stimmte dies auch fast noch, aber je mehr Zeit verstrich, desto seltener kam ihre Mutter zu ihr. Ihr Vater ließ sich nicht ein einziges Mal blicken, und nach einigen Kaolei war sogar ihre Mutter nicht mehr aufgetaucht.

Niaji war dies mittlerweile gleichgültig gewesen, denn sie sah wie sehr ihre Mutter damit zu kämpfen hatte, dass ihre Tochter kein Mensch mehr war. Das letzte Mal war sie nämlich bei ihr gewesen, als sie sich wieder hatte häuten müssen. Und dies schien ihre Mutter wohl nun gänzlich vergrault zu haben.

Anfangs hatten auch einige versucht diesen Zauber an ihr zu brechen, doch gelungen war es keinem. Erst nach einiger Zeit, Niaji hatte sich mittlerweile damit abgefunden nie mehr Mensch zu sein, bekam sie etwas heraus, was sie völlig vergessen hatte.

An diesem Nachmittag klopfte sie zaghaft an die Kammertür von Koldarim an. Er hieß sie einzutreten, und sie schlüpfte elegant in seinen eher üppig wirkenden Raum, der den Namen Kammer nicht recht verdient hatte. "Herr, ich möchte Euch mitteilen, dass ich nicht mehr gewillt bin mich weiteren Versuchen der Rückzauberung zu unterziehen. Ich weiß nun, dass es hoffnungslos ist". Sie stellte die Flasche, die sie tagsüber einfach mitgenommen hatte vor sich auf den Tisch und glitt dann selbst zur Seite, um in einen Sessel hineinzugleiten.

"Heute habe ich mich daran erinnert, dass es noch etwas gab, dass ich Euch zu erzählen vergaß. Diese Mischung hier, welche für äußere Anwendungen an Gegenständen zur Permanisierung gedacht ist, habe ich in jener Nacht zu mir genommen, als mich Learog wandelte. Ich glaube, Euch ist bekannt, dass dies niemals getrunken werden soll, weil die schlimmsten Nebenwirkungen damit verbunden sein können. Doch ich war ein Kind. Ich war durstig, und das war das Einzige wonach ich greifen konnte, was nicht grausam stank. Ich denke, dass diese Mischung in mir jeglichen Gegenzauber bricht, der gegen jene Verwandelung von damals angewendet wird.

Daher habe ich beschlossen mich endgültig damit abzufinden, dass ich nie mehr Mensch sein werde, so wie meine Eltern mit mir abgeschlossen haben.

Ihr wißt, dass mein Vater niemals hierher kam, und dass meine Mutter nun bereits seit fast 2 Kaolei nicht mehr hierher gekommen ist? Nun, mir ist es gleichgültig. Sie hatten schon damals mit mir abgeschlossen, bevor ich nach Hause zurück gekehrt war. Wie töricht dumm ich als Kind doch war!

Oh, und bevor ich es vergesse: ich benötige Zugang zur Bibliothek, Herr. Ich möchte meine Prüfung nicht mit jenen Zaubern bestreiten, die schon geläufig sind, sondern möchte forschen."

"Fräulein Salaar, ich akzeptiere Eure Entscheidung. Aber ich glaube nicht, dass Ihr bereits jetzt schon Zugang zu den Schätzen unseres Hauses erhalten solltet. Ich habe Euch hier als Kind ohne Mittel aufgenommen, und halte Euch für ziemlich unverfrohren, dass ihr schon jetzt meint die Forschung beginnen zu können. Ich verwehre Euch euren Wunsch."

Mit einer fließenden Bewegung war Niaji aus dem Sessel heraus und wandte sich der Tür zu. Zwischen den Zähnen preßte sie hervor: "Wie ihr meint, Meister".

In der folgenden Zeit sah man sie häufiger mit jungen Männern aus den erfahreneren Lehrgruppen. Und obwohl sie nicht vollständig menschlich war, schaffte sie es doch diese mit ihrem hübschen Gesicht zu verzaubern. So begann sie heimlich damit das Geschenk ihrer Freundin zu erforschen, denn niemand sonst hier hatte einen Stab von jemandem bei seinem Ableben erhalten. Tieropfer waren noch das Gröbste, was bei einer Erstellung dieses Zauberhandwerkzeugs durchgeführt wurden. Aber niemals ein Selbstopfer. Und Niaji wollte wissen, warum Rhoana das getan hatte. Ihre Freundin mußte sich einfach etwas dabei gedacht haben.

Doch das Durchgraben der vielen Schriften war schwieriger und langwieriger als sie gedacht hatte. Selbst als sie endlich allein die Bücher einsehen durfte, und nichts heimliches mehr dabei war, hatte sie noch immer nichts herausgefunden. Bis endlich ein Mann auftauchte, den zu sehen sie sich bestimmt nicht erhofft hatte: Learog.

Er war so abstoßend wie zuvor. Und am liebsten hätte sie ihm sonst etwas entgegen geschleudert, als er sie mit einem "Oh, wie ich sehe kannst du nicht mehr stolpern" und einem blechernen Lachen begrüßte. In seinem Schlepp hatte er einen eingeschüchtert wirkenden kleinen Jungen, der den Kram des alten Stinkers schleppte. "Und wie ich sehe, haltet ihr immer noch Haussklaven?", entgegnete Niaji kalt. Wäre in diesem Moment nicht Koldarim, der Herr dieser Stätte, aufgetaucht, wäre wahrscheinlich Schlimmstes passiert, doch mit einem Schlag wurde Learog zu einer schleimig freundlichen Kröte, die ihren Herrn umgarnen wollte.

Er tat so, als sei er freundlich und verabschiedete sich mit rasch und unbedachten Worten bei Niaji, bevor er hinter Koldarim hinterher davorschlich: "Ich hoffe, wir sehen uns wieder, wir drei."

Mitten in der Nacht schlug Niaji die Augen auf, und plötzlich war ihr klar, was Learog gemeint haben mußte. Hastig schnappte sie sich ihren Zauberstab, den alten knorrigen Stock, und glitt hinüber in den gesicherten Bereich. Sie mußte dem nachgehen. Jetzt sofort.

Sie klopfte an das Zimmer von Uramo an, der die stärksten seherischen Fähigkeiten hatte. Und ohne eine Antwort abzuwarten öffnete sie seine Tür und glitt hinein. "Niaji?", nuschelte er verschlafen, als er sie erkannte. "Du mußt mir helfen, Uramo. Aber wehe Du sagst irgendwem was davon. Hier!"

Sie legte den Stab auf sein Bett und ließ sich halb sitzend am Fußende selbst darauf nieder. Er schaut sie verwirrt an, und öffnete den Verdunklungsschirm an der Lampe aus Dauerhaftem Licht. "Dein Stab? Was ist damit?"

"Du bist Seher, richtig? Sag mir was in dem Stab ist!"

Er schaute sie völlig entgeistert an.

"Nun mach schon. Ich gehe auch mit Dir zu diesem blöden Wirtshaus in dem Kaff da hinten", plapperte sie ein unüberlegtes Versprechen heraus, "aber jetzt sag mir endlich was in meinem Stab ist. Er ist nicht normal. Ich weiß es, und ich möchte es genau wissen."

Uramo hakte nach: "Morgen abend. Mit mir ins Wirtshaus?"

"Ja ja."

"Gut."

Er begann seinen Geist zu versenken und seine Hand legte sich auf den Stab. Ein tiefes Summen entrang seiner Kehle und wurde durch ihr fremde Worte ergänzt. Gespannt starrte sie auf das Geschehen, und plötzlich sprach er mit Rhoanas Stimme: "Jiji, meine Kleine. Wo steckst Du?" Er öffnete Seine Augen, die irgendwie fremd wirkten.

"Bist Du das? Dann sind aber einige Kaolei vergangen, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben."

"Anni?" Völlig verdattert schaute sie ihn an, und hatte doch das Gefühl, als sei ihre alte Freundin tatsächlich dort.

"Ja, Jiji. Ich bin's wirklich. Ich hoffe nur, ich hatte Dir keinen zu großen Schrecken eingejagt, aber es ging einfach nicht anders. Die Konstellationen an dem Tag waren die günstigsten für einen Seelengang. Und Du weißt, dass ich keine Schmerzen mehr haben wollte. Erzähl mal. Was ist alles passiert, seit wir uns zuletzt gesehen haben."

Und Niaji erzählte alles. Und endlich nach vielen Jahren fühlte sie sich plötzlich befreit von allem. Sie fühlte sich glücklich. Erst als Uramos Stimme ein "Oh, Niaji" in ihr Ohr seufzte, ließ sie blitzartig die Umarmung fallen, in die sie mit ihrer Freundin nach so langer Zeit gefallen war.

Am nächsten Tag wußten alle, dass sie bei Uramo gewesen war. Und es wurde alles mögliche darüber getuschelt, was wohl bei den beiden gewesen war. Und noch mehr wurde gerdet, als sie zusammen zum nahen Ort hinüber gingen, nachdem er sie mehrfach daran erinnerte, dass sie ihm dieses Versprechen gegeben habe, und er andeutete, dass er ja auch von der innigen Umarmung erzählen könnte. So wurde natürlich am kommenden Tag trotzdem fürchterlich spekuliert, dass zwischen den Beiden etwas laufen würde, da man sie zusammen sah.

Niaji mied ihn einige Zeit wie die Pest, doch irgendwann wollte sie wieder mit ihrer Freundin sprechen können. Also versuchte sie wieder möglichst heimlich zu ihm zu gehen. Und wieder erpreßte er ein Versprechen aus ihr: einen Kuß. Schimpfend und zeternd hatte sie vor ihm gestanden, was er alles schweigsam duldend über sich erhegen ließ. Irgendwann gab sie dann klein bei und ging darauf ein. Natürlich fragte sie ihre Freundin, ob es nicht einen anderen Weg sich zu sehen gäbe, und diese beschrieb ihn ihr so weit sie an diesem abend konnte.

An weiteren folgenden Abenden, aus einem Kuß wurde ein verlangender Kuß, dann mußte sie sich noch mit ihm unterhalten, und schließlich wollte er mehr, was sie ihm verwehrte. Doch das Schlimmste war, dass sie beim Öffnen der Tür um zurück zu ihrer Kammer zu gelangen, plötzlich vor einer kleinen Gruppe anderer Jungmagier stand, die anscheinend im Flur selbst gerade irgendwo hin schleichen wollte. Hastig schloß sie die Tür wieder, doch natürlich hatten sie die anderen hier gesehen.

"Ich möchte, dass Du meine Frau wirst."

Seine Stimmte dröhnte in ihrem Kopf. Hatte er das gerade tatsächlich gesagt? Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? "Bitte, Niaji, ich liebe Dich schon seit Du das erste Mal in mein Zimmer gekommen bist. Ich komme mir auch so schäbig vor, dass ich Dich erpreßt habe. Es tut mir leid." Was für ein schmieriger Scheißkerl. "Komm, setz Dich zu mir und laß uns einfach nur reden, ja?" Eine Kröte soll aus Dir werden. Unwillig glitt sie dennoch wieder herüber. Nur reden. Na gut, dann sollte er halt reden. "Aber erst", begann sie und hielt ihm den Stab hin.

"Bitte Anni, mach was. Der Scheißkerl will, dass ich ihn heirate. Was brauche ich noch, damit ich diesen Wurm nicht mehr sehen muß? Ich will Dich sehen, und nicht mehr ihn hier." Und Rhoana erklärte ihr, nach welchen Schriften sie suchen mußte, damit sie ihr das selbst nicht mehr erklären brauche. Es würde aber länger dauern, als von ihr angewiesen zu werden, bedauerte sie ihrer Freundin gegenüber. Danach verabschiedeten sie sich noch mit einem herzlichen Druck. "Geh jetzt, schnell", raunte Rhoana ihrer Freundin zu. "Ich merke, wie ich langsam wieder zurückgedrängt werde."

Rasch verließ Niaji den Raum und ließ einen völlig gekränkten Uramo hinter sich. Auch ignorierte sie sämtliche Schilderungen seinerseits gegenüber anderen, die er prahlend von sich gab, kaum dass ihm gewahr wurde, dass auch die anderen mitbekommen hatten, dass Niaji bei ihm im Zimmer gewesen war. Er erfand schlüpferige Geschichten, und sie wurde irgendwann einmal von einer Jungmagierin angesprochen: "Wieso läßt Du dir das eigentlich von diesem Kerl gefallen, Niaji? Davon ist doch bestimmt nichts wahr, oder?"

Niaji ließ die selbstzweifelnde Fragerin ohne einen Kommentar stehen und widmete sich wieder der Forschung. Irgendwann mußte sie es endlich schaffen, wieder mit ihrer Freundin sprechen zu können, ohne Uramo darum bitten zu müssen. Und dabei durfte ihr einfach kein Fehler passieren.

"Fräulein Salaar", wurde sie aus ihrem Brüten heraus gerissen, "Es möchte Euch jemand sprechen."

Artig folgte sie der Aufforderung und räumte rasch, aber dennoch vorsichtig die Schriften fort, bevor sie zu den Offenen Bereichen herüberglitt. Wer konnte das bloß sein? Ihre Mutter vielleicht? Oder hatte sie ihr Vater hierher verlaufen, um ihr mitzuteilen, dass ihr Mutter gestorben war? Vielleicht ja auch einer ihrer Geschwister. Diese feige Bande. Nicht ein einziger hatte sie je besucht.

Vor ihr stand eine Halblingsfrau, als sie den Raum betrat. "Mein Name ist Lanibel, Tochter von Lombas. Ich sollte Euch hier suchen, hat mein Bruder gesagt. Er liegt im Sterben." Sie schluckte trockene Tränen herunter. "Er sagte, Ihr hättet ihn gekannt, und er möchte Euch noch einmal sehen, bevor er geht."

Niaji war wie vor den Kopf gestoßen. "Lompadil", flüsterte sie, und langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie nickte. "Wie weit ist die Reise?", fragte sie nüchtern die Trauer zu unterdrücken versuchend. Lanibel schluckte. "Er war immer in Eurer Nähe, weil er Euch beschützen wollte. Er hat Euch sehr geliebt, Herrin."

"Ich ihn auch", entrann es ihren Lippen flüsternd. "Wie weit?", setzte sie nach. "In Mirsza."

Niaji fühle sich benebelt. Lompadil hatte die ganze Zeit nur einige hundert Meter weit von hier entfernt gelebt? Diese verdammte Hurensohn von einem Dieb. Wahrscheinlich war er sogar oft genug hier eingestiegen und hatte sie beobachtet. Die Tränen brannten in ihren Augen, und sie nickte. "Ich komme."

Es war ein fürchterlicher Abschied. Nur wenige Minuten waren den beiden geblieben, um sich gegenseitig zu beteuern, was für Dummköpfe sie gewesen waren. Er gestand ihr, dass er für sie die Tochter gewesen war, die er selbst nie zeugte, und er sie geliebt hatte, als sei sie sein eigen gewesen. Und sie beteuerte ihm ihre Liebe einem Vater gegenüber, der er ein besserer nie hätte sein können. Als seine Familie nach endlos erscheinender Zeit den Raum wieder betrat, hielt sie noch immer seine langsam erkaltende Hand. Niemand sprach ein Wort, bis Niaji sich erhob und ihn auf seine geschlossenen Augen küßte.

"In meinem Herzen lebst Du weiter, Vater", hatte sie gesagt, als sie ihn auf die Stirn küßte und war dann unter völlig verwirrten Blicken der Familie aus dem Raum entschwunden. Am Tag der Beerdigung ließen seine Eltern sie gewähren noch vor ihnen den Abschiedsgruß stumm am Grab zu halten, und sie stand noch stumm dort, als bereits der Totengräber beginnen wollte die Gruft mit Erde zu füllen. Unschlüssig schaute er sie mit der Schaufel in der Hand an, doch als er keinerlei Reaktion bekam, begann er mit seiner Arbeit.

Es schauderte ihm, als sie lautlos vom Grab fortgeglitten war, und die Stelle nun leer war als er wieder aufschaute.

In den folgenden Tagen wichen ihr alle aus, sofern sie ihr beim Gang zum Grab oder vom Grab zurück begegneten. Einzig Uramo griff sich einen Abends ein Herz, und stand in ihrer Kammer, als sie eines Abend nach Hause zurückkehrte. Er deutete auf ihren Stab und fragte sie mit trockener Stimme: "brauchst Du jemandem zum reden?", und endlich konnte sie Rhoana ihr Herz ausschütten und sich tröstend zureden lassen.

Niemand machte anzügliche Scherze am folgenden Morgen, als Uramo mit Niaji zusammen aus dem Zimmer kam. Sie hatte einfach weiter erzählt, selbst als Rhoana schon wieder fort war. Und er hatte ihr zugehört. All die Grausamkeiten in ihrem Leben. Er war erschüttert, und als er gehen wollte hieß sie ihn zu bleiben. Und so hatte er an ihrem Bett gesessen, bis sie eingeschlafen war. Und er war aufgewacht, als sie ihn geweckt hatte, das Kreuz schmerzend von dem Schlaf auf dem harten Stuhl.

Sie waren Freunde.

So war sie auch Zeugin seiner Hochzeit mit der jungen Milanida, die sein Herz gewonnen hatte. Niaji war traurig, als er den vertrauten Ort verließ, um mit Milanida eine Familie zu gründen. Sie versprachen sich, dass sie einander besuchen würden, doch beide wußten, dass dies nur hohle Worte waren. Er würde nicht mehr die Zeit zu kommen finden, und Niaji würde nur Milanidas Eifersucht schüren, wenn sie tatsächlich zu Besuch kam. Beide wußten es, und trotzdem gaben sie sich das Versprechen. Ein letztes Mal umarmten sie sich herzlich zum Ende der Hochzeitsfeier, und während das Paar davon fuhr, verschwand Niaji in ihre Kammer.

Zum ersten Mal sprach sie den Zauber, den sie ohne Wissen ihrer Lehrmeister erforscht hatte, jetzt wo Uramo nicht mehr hier war. Geisterhafte Schleier umspielten den knorrigen alten Stock, und eine nebelhafte Gestalt verdichtete sich: Rhoana. Und die beiden redeten bis Niajis Kraft aufgezehrt war.

Als eines Tages eine Einladung von Uramo bei ihr eintraf, haderte sie kurz und zerriß sie kurzerhand. Er mußte sein Leben führen, so wie sie ihres. Sie hatte ihre einzige Freundin wiedergefunden. Nur das zählte, außer vielleicht die Schulungen, die ihr unablässig von Rhoana mitgeteilt wurden. Niaji wurde eine Einsiedlerin unter vielen, bis eines Tages Koldarim ihre Kammertür öffnete.

Er hatte sich gut zurechtgelegt, was er zu ihr sagen sollte, doch das Bild der Schlangenfrau mit der geisterhaften kleinen Gestalt von Rhoana vor sich überraschte ihn zu sehr. "Meister Koldarim?", sagte Rhoana und Niaji ruckte herum. "Rhoana? Ihr seid noch unter uns? Ich dachte, Euch hätte die Seuche zerfressen."

"Oh, das hat sie. Aber ich habe eine gelehrige Schülerin, die wahre Wunder vollbracht hat. Es tut mir nur leid, dass ich ihr Leben dafür völlig auf den Kopf gestellt habe". Sie warf Niaji ein Lächeln zu. "Aber das hat sie mir verziehen. Und Ihr? Ich dachte, die Buchwürmer hätten schon längst Euer Hirn erwischt. Ihr scheint mir ja noch immer auf der Höhe zu sein."

Im folgenden Gespräch war Niaji nur stumme Anwesende, bekam aber mit, dass ihre Freundin und ihr offizieller Mentor wohl selbst beide früher zusammen lernten. Und erst jetzt kam ihr in den Sinn, wie alt Rhoana schon gewesen war, als sie als Kinder zusammen gespielt hatten. Deshalb war sie auch so wenig kindlich gewesen. Niaji schwirrte der Kopf.

Noch am folgenden Tag wurde ihr der offizielle Titel als Kundige in der Nekromantie anerkannt, da sie eine Prüfung bestanden hätte, von der Niaji selbst gar nichts wußte, dass sie stattgefunden hatte. Ab diesem Tag galt sie als Eigenständige, was aber auch bedeutete, dass sie ihre Kammer für Neulinge räumen mußte, sofern sie nicht jetzt selbst dafür würde aufkommen können. Im Grunde war es ein Rausschmiß, an dem ihr Mentor wohl anscheinend mit Schuld war. Aber irgendwie hatte sie dumpf in Erinnerung, dass ihre Freundin wohl auch nicht ganz unbeteiligt an der Entscheidung gewesen sein konnte.

Nun stand sie da, und hatte ein vertrautes Leben hinter sich und eines vor sich, dessen sie sich völlig ungewiß war. Was würde ihr die Zukunft nun bringen? Sie konnte nähen, kochen und zaubern. Von anderen Dingen hatte sie nur wenig Ahnung, also mußte sie versuchen aus diesen wenigen Talenten einen Verdienst auszubauen, damit sie nicht verhungern würde. Vielleicht würde Lompadil ihr dazu etwas raten können, wenn sie ihn fragte. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie würde seine Gebeine in Frieden ruhen lassen. Er hätte sicher nicht gewollt, dass sie sich an seinem Grab zu schaffen machte, um auch ihn aus seiner Ruhe zu schrecken. Für Rhoana war dies etwas worauf sie sich freute, aber Lompadil wäre es bestimmt nicht recht.

Noch während sie mit gleichmäßigen Bewegungen auf Mirsza zuglitt, versuchte sie sich vorzustellen, wie ein Leben in der Stadt wohl sein mochte. Sie war vor ein paar Kaolei mal mit Uramo hier in einer Gaststätte gewesen. Vielleicht würde sie ja dort erst einmal hingehen. Bestimmt würde sie dort auf ein bekanntes Gesicht treffen, und dann würde sicher ein Schritt nach dem anderen geschehen. Wenn sie recht überlegte, hatte sie doch bisher tatsächlich viel Glück gehabt. Gut, ihre Kindheit war verdorben worden, aber das war mittlerweile in weite Ferne gerückt. An ihr Leben als Halbmensch hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Die erschreckten Blicke der Neulinge hatte sie in den letzten Kaolei auch als erheiternd empfunden, und sie mußte unwillkürlich schmunzeln als sie an den kleinen blondlockigen völlig verhätschelt aussehenden Jungen denken mußte, der in diesem Sommer hierher gekommen war. Uramo war zu ihm hin gegangen und hatte seinen Mund mit den Worten "He, paß auf, da brummen schon die Fliegen raus" geschlossen.

Noch völlig in Gedanken versunken glitt sie in den Ort hinein. Wo war dieser Gasthof nur gewesen. Sie versuchte sich zu orientieren und bemerkte beim Umschauen die Blicke der Menschen um sich herum. Sie meinte ihr Tuscheln bis hierher zu hören. War das auch so gewesen, als sie zu Lompadil gerufen worden war? Sie fühlte sich unwohl und beschleunigte ihre Bewegung, welche fast schon einer Flucht glich, bis sie sich in den verwinkelten Gassen verlaufen hatte.

"Verdammt!", fluchte sie leise. Ein Lumpenhaufen aus der Ecke rührte sich träge und trug einen beißenden Geruch zu ihr herüber. "Habt ihr etwas Brot für einen Blinden?", rostete ihr eine Stimme aus dem stinkenden Haufen entgegen. Ihr wurde übel. "Seid Ihr etwa zu fein, um einen scheiß Blinden etwas zu fressen zu geben?", schrie ihr der Lumpenhaufen bösartig entgegen und gebrannte Augen starrten ziellos in ihre Richtung. Hastig drehte sie sich unter dem Schimpfen des Mannes fort und floh in entgegengesetzte Richtung zwei oder drei Gassen weiter. Ihr Magen rebellierte und wollte von sich geben, was sie gefrühstückt hatte, doch sie beruhigte ihn mit langsamen tiefen Atemzügen.

Die Gegend hier wirkte nicht gerade einladend. Im Augenwinkel vernahm sie eine Bewegung und ängstlich huschte sie rasch in eine nahe Nische. Sie schauderte. Das dort war Learog, und er schien wohl seit ihrem letzten Zusammentreffen wieder ein neues Opfer gefunden zu haben, welches er in seinem Sklavenhaushalt hielt. Ein hübsches junges Ding hatte er da bei sich. Vielleicht 12 oder 13 Kaolei alt, und gerade in der Knospe ihre Lebens. Wie von einem Magneten angezogen folgte sie den Beiden unauffällig durch die verwinkelten Gassen, bis sie an Learogs Haus ankamen.

Was sollte jetzt werden? Sie wußte, dass dieses Mädchen dort mit Sicherheit ein fürchterliches Leben haben würde. Aber was sollte sie daran ändern? "Ach Lompadil", flüsterte sie. "Du hast dich für verrückt gehalten, aber ich muß noch viel verrückter sein."

Sie glitt auf das Gebäude zu. Damals war Learog aus dem Haus gewesen, als Lompadil sie dort heraus geholt hatte, aber Niaji wußte auch, dass er oft eine schier endlose Zeit in seinen vier Wänden gehockt hatte, wenn er neue Einkäufe getätigt hatte. Und das Mädchen war wie ein Packesel beladen gewesen, als er mit ihr hierher gekommen war. Zorn machte sich in ihr breit. Was bildete sich dieser Scheißkerl eigentlich ein, das Leben unschuldiger Kinder zu zerstören?

Ihre Hand umklammerte das Messer an ihrer Seite. Nein. Sein Blut würde nicht das Blut Rhoanas an dieser Klinge benetzen. Mordlust stieg in ihr auf. Büßen sollte er aber für alles was er ihr und anderen angetan hatte. Niemals wieder sollte er jemanden quälen. Sie lachte kalt auf. Ja, quälen. Sie würde ihm Todesqualen bereiten. Ihre Hand lag auf der Klinke und drückte sie nieder. Die Tür war nicht verschlossen. Leise raschelnd glitt sie über die Schwelle, und hörte seine Stimme wie aus der Ferne brüllen. Natürlich. Er war im Labor.

Hastig glitt sie durch das Haus, die Stufen hinab und stutzte, da sie nun nichts mehr hörte. Ganz leise schob sie sich näher und näher an die schwere Tür heran, umklammerte den alten knorrigen Stab und drückte vorsichtig einen Spalt auf. Es war dunkel und ruhig hier unten. Sie verbreiterte den Durchgang bis sie hineinschlüpfen konnte, doch hier unten war niemand.

Verwirrt schaute sie sich nochmals um, und glitt wieder die Treppen hinauf, bedacht immer leise zu sein. Im Erdgeschoß durchkämmte sie Raum für Raum, doch niemand war zu sehen. Sie mußten oben sein. Aber oben waren nur seine Bücher und sein... Sie erschrak, als sie sein heftiges Schnaufen und das leise Wimmern des Mädchen hörte. Mit einem Schlag wurde ihr klar, was dort oben vor sich gehen mußte, und ohne auf das Knarren der Treppe zu achten hastete sie nach oben.

Dieser Haufen Mist verging sich tatsächlich an diesem unschuldigen Ding. Ihr drehte sich der Magen um, wie sie ihn heftig schnaufend über ihr sah. Und im nächsten Moment waren schon die Worte gesprochen, welche ihr Antlitz auch im Gesicht dem einer Schlange ähnlich machten. Zwei von Gift triefende Zähne ragten aus dem schlangengleichen Oberkiefer, und sie rauschte mordlüsternd in den Raum. Das Mädchen bemerkte sie zuerst und erschrak fürchterlich bei ihrem Anblick. Er ruckte herum und sah die schrecklichen Fangzähne auf sich zuschnellen. Tief fuhren sie ihn sein Fleisch, und Niaji schmeckte sein Blut mit dem süßen Geschmack des Giftes, welches nun dort hinein gepreßt wurde.

Er riß sich aus der tödlichen Umarmung los und griff mit glasigem Blick nach seinem Stab, doch sein Zauber war zu unkonzentriert gesprochen und perlte an ihr ab. "Das war dafür, was Du mir angetan hattest", zischelte sie aus ihrem Schlangengesicht. "Und dies ist dafür, was Du diesem Kind hier antust!" Mit einer schnellen Bewegung, zu schnell als dass er noch hatte ausweichen können, war sie bei ihm und trieb ihm abermals Gift durch seine Haut. "Stirb endlich, Du Schwein!", zischelte sie und biß abermals zu. Seine Augen begannen langsam im giftigen Wahn zu brechen. Schaum trat über seine Lippen, als er noch einen Zauber zu weben versuchte. "Du wirst niemals wieder jemanden quälen". An seinem Hals prangen weitere Bißmale, aus denen giftiges Sekret sickerte. Er fiel auf die Knie und seine Augen verdrehten sich unter Qualen. Dann fiel er vornüber auf den Boden und war tot.

Kreischend floh das Mädchen, ohne dass sich Niaji weiter um sie kümmerte. Niajis Herz war erfüllt von Haß, als sie über ihm stand, und die Wirkung des Zauber verflog. Ihr Gesicht war wieder menschlich, doch wirkte es in diesem Moment kaum noch als solches. "Du raubst nie wieder den Menschen ihre Kinder."

Sie spuckte auf den Leichnam, dann nahm sie seinen Zauberstab und zerbrach ihn. Die Stücke warf sie neben den Toten. "Nie wieder!", fügte sie mit grausam kalter Stimme hinzu.

Ihre Glieder fühlten sich taub und bleiern an. So wie eine Last von ihr gefallen war, ebenso fühlte sie sich nun ausgehöhlt und leer. Und ohne den Toten zu beachten, rutschte sie zu dem Bett herüber und ließ sich darauf niedersinken. "Ach Anni", flüsterte sie und strich sanft über ihren Stab. "Was mach' ich jetzt?" Der Zauber ging ihr wie von selbst über die Lippen, und Rhoana war nun bei ihr. Sie schaute sich das Desaster an, und dann auf Niaji, die rücklings mit zur Decke gerichteten Augen auf dem Bett lag.

"Jiji, da hast Du ja eine schöne Schweinerei angerichtet. Das ist doch der Kerl, von dem Du damals gefangen gehalten wurdest, oder?"

Niaji nickte.

"Na ja. Schwamm drüber", lachte die geisterhafte Erscheinung. "Und wie willst Du die Leiche hier jetzt los werden?"

Niaji ruckte hoch und starrte ihre Freundin entgeistert an. "Wie meinst Du das?"

"Ja, was meinst Du denn?" Sie deutete auf den Toten. "Du kannst ihn schlecht hier liegen lassen, oder hast Du vergessen, was ich Dir über totes Fleisch gesagt habe? Du solltest ihn möglichst schnell verscharren, bevor er anfängt zu stinken. Das ist eine häßliche Sache. Vor allem wenn die Würmer anf..."

"Hör auf!" Niajis Stimme hatte sich fast überschlagen, und fuhr wütend fort: "Wie stellst Du dir das eigentlich vor? Soll ich den hier einfach so nach draußen schleppen und dann ein Loch schaufeln, oder was?"

"Hör mal, Liebchen. Ich war's nicht, die diese Sau da abgestochen hat, ja. Also hör auf mir Vorwürfe zu machen, dass ich mich um Dich sorge. Aber vielleicht hättest Du ja mal vorher überlegen können, was Du da so treibst. Jetzt stell Dir vor den finden sie und dann hat Dich vielleicht noch einer gesehen, wie Du ins Haus rein oder wieder raus kamst. Oder möchtest Du als Mörderin am Strick landen?"

Niaji zuckte zusammen bei dem Wort "Mörderin". Sie schluckte. Tatsächlich, sie hatte ihn getötet, aber es war doch gerecht gewesen. Oder?

"Ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich an einem Mädchen vergangen hat", versuchte sie sich gegenüber Rhoana zu verteidigen. Diese verdrehte nur die Augen. "Das ist ja noch schlimmer. Jetzt wird die Kleine bestimmt schon draußen irgendwo heulend von irgendeiner Wache aufgesammelt worden sein und Stück für Stück werden sie herausbekommen, was passiert ist. Sieh zu, dass Du hier weg kommst, Niaji!"

Niaji schüttelte den Kopf. "Nein, ich werde nicht fortlaufen, Rhoana. Versteh doch, Anni: der Kerl hat ein Mädchen gegen ihren Willen..."

"Niaji! Was meinst Du denn was die den Wachen erzählen wird? Meinst Du sie wird ihnen auch nur ein Wort davon sagen, was er ihr angetan hat?"

"Dann werde ich es ihnen sagen."

Rhoana schaute nachdenklich auf den Toten. "Da kommst Du nie heil raus", gab sie halblaut von sich und fuhr dann mit normaler Stimme fort. "Also wird heute wohl ein Tag des Abschieds für uns sein, und Du wirst den Abend wohl nicht mehr erleben."

Niaji schaute Rhoana erschreckt an. Fast die gleichen Worte hatte sie damals zu ihr gesagt, als sie mit dem Messer in ihrer Brust in ihren Armen gestorben war.

"Es ist wirklich jammerschade. Du warst wirklich immer so nett. Na ja, ich werde Dich vermissen". Sie streckte ihr die geisterhafte Hand entgegen und legte sie auf Niajis tätowierten Handrücken. Diese Nicht-Berührung konnte Niaji durch eine gewisse Kühle spüren, aber dass sie ausgerechnet jetzt die Geste vollführte wie damals...

"Du bist mehr Schlange als ich!", warf ihr Niaji entgegen und griff nach ihrem Stab. "Verdammt! Aber du hast recht. Wenn die hier einen Toten finden, dann kann ich mir meine Zukunft hier abschminken". Sie steckte der knorrigen Stock zurück in ihren Beutel, so dass Rhoana an ihrer Seite schwebend weiterhin bei ihr sein konnte. "Und jetzt entsorgen wir dieses Schwein hier endlich."

Schnell sprach sie noch einen Zauber, der ihr mehr Kraft verlieh und wuchtete so schnell sie konnte den Toten in sein Labor hinab. Mit fahrigen Bewegungen durchsuchte sie die schmierigen Flaschen auf Regalen und in den Ecken, bis Rhoana auf einmal "Die hier!" rief und auf eine bauchige Flasche mit doppeltem Hals zeigte. Niaji griff die Flasche und schüttele ihren Inhalt über den Toten, der sich rasch in einen lehmigen Erdhaufen wandelte. Angeekelt zerrte sie die Kleidung von dem Matsch, welcher dadurch seine Ähnlichkeit mit dem Toten verlor, und stopfe das Zeug in ein kleines Faß neben dem Tisch. Dann huschte sie hinauf und holte das Putzzeug, welches immer noch dort stand, wo sie es selbst früher immer hergeholt hatte, und scheuerte wie besessen die blutigen Flecken von den Dielen des Schlafraums.

Unten hörte sie Stimmen. Rhoana deutet auf's Bett, und Niaji nickte. Mit einem Lächeln beendete sie den Zauber, und die nebelhafte Gestalt verflog. Sie schlüpfte aus ihren Kleidern und unter die Decke des Bettes. Dort wartete sie bis die Tür aufflog und zwei grimmig aussehende Gestalten in Uniform bekleidet den Raum betraten. Hinter ihnen ganz klein stand eingeschüchtert und mit roten Augen das kleine Mädchen und zeigte stumm in das Zimmer.

Niaji setzte sich im Bett auf und hob dann rasch die Decke über ihren Oberkörper. Die beiden Wachen brauchten zwei Sekunden um sich von dem Anblick wieder auf ihr Gesicht zu konzentrieren und wirkten sehr verlegen, als sie mit fester Stimme fragte: "Was wollt Ihr hier? Kann eine unbescholtene Bürgerin nicht einmal in ihrem Bett schlafen, ohne dass zwei Kerle hineinstürmen. Bitte verlaßt sofort mein Schlafzimmer." Die beiden traten unruhig von einem Bein auf das andere. "Dieses Mädchen", begann einer verlegen, "hat uns angezeigt hier wäre jemand gestorben. Also: ich meine ermordet worden. Von einer Riesenschlange." Er schabte unruhig mit dem Fuß über den Boden.

"Würden sie sich bitte umdrehen, damit ich mir etwas überziehen kann, ja?" Sie zog die Decke noch höher unter ihr Kinn, und beide drehten sich wie auf ein Kommando hin gleichzeitig um. Rasch stülpte sie sich ihr Unterkleid über und warf die Bettdecke dann über Tasche, Oberbekleidung und den nassen Fleck am Boden. "So, eine Riesenschlange, ja." Die beiden drehten sich um, da sie das Angesprochenwerden als Aufforderung ansahen und bekamen große Augen bei dem Anblick vor sich. "Ich find es eine Unverschämtheit, dass man so für seine Andersartigkeit in Verruf gebracht wird. Da hütet man das Haus eines Magierfreundes", die beiden zuckten ein wenig zusammen, "und schon am ersten Tag nach seiner Abreise steht plötzlich die Wache in Begleitung eines Kindes", sie funkelte die Kleine an auf die sie jetzt äußerst wütend war, "vor einem und will einen Mord hier gesehen haben. Aber bitte. Seht Euch nur um werte Herren". Sie mache eine weite Bewegung mit dem Arm durch den Raum, welche wohl das ganze Haus umfassen sollte. Die Augen der beiden waren aber eher von dem Anblick gefesselt, der sich ihnen direkt bot: eine im beinahe durchscheinenden Gewand bekleidete herrlich aussehnde Frau, deren Unterkörper einer Riesenschlange glich.

"Aber sicher werdet Ihr auch gewiß anschließend zu Koldarim, Herr von Mirsza, Bewahrer der Schwingen der Flugfüchse gehen, und ihm berichten, dass ihr die Behausung einer seiner Schülerinnen nach Leichen durchforscht habt. Bitte, tut Euch keinen Zwang an."

Mit nur zwei Schwüngen war sie direkt vor den beiden, und ihre Augen versuchten angestrengt nur in ihrem Gesicht zu verweilen, obwohl eine fürchterliche Anziehungskraft von ihrem Dekolleté auf die vier Augen wirkte, was Niaji innerlich schmunzenld feststellte. Rhoana war wirklich eine kleine Schlange, und länger hätte sie wirklich nicht untätig herumliegen dürfen, sonst wäre ihr Hals wohl tatsächlich der Schlinge viel näher, als er ihr jetzt erschien. Viel mehr schien den beiden Wachleuten ihr Kragen zu eng zu werden, wie sie so vor ihr standen.

Der Wachmann, der auch Anfangs das Wort ergriffen hatte, faßte sich aber nun doch ein Herz, was eben gleiches bei Niaji in den Keller sacken ließ: "Wir müssen aber trotzdem einem solchen Hinweis nachgehen", beharrte er. Seine Stimme klang im Unterton ein wenig zitterig. "Würdet ihr uns bitte eintreten lassen, um nachzusehen, dass dort wirklich niemand liegt?"

Niaji drückte sich ein wenig hoch, bevor sie sich herumdrehte, und war sich sicher, dass die Blicke der beiden ihr sicher dort folgten, wo sie diese hatte hinlenken wollen. "Bitte, die Herren. Natürlich. Ich habe nichts zu verbergen". Sie glitt zu dem Bett herüber, drehte sich mit dem Oberkörper zu den beiden herum und bückte sich um die Bettdecke aufzuheben, während ihr hinteres Ende ihre Tasche an den kleinen Schrank schob. Ohne sich ganz aufzurichten, hob sie die Decke auf das Bett herüber und rutschte mit ihrem Unterkörper gleichzeitig in eine Spiralform, so dass der nasse Teil des Bodens größtenteils vor Blicken verdeckt blieb. Als sie den Kopf ein wenig anhob, um den Wachleute anzuschauen, hätte sie beinahe gegrinst, denn erst jetzt hüpften zwei Augenpaare kurz zu Boden und dann wieder hoch, so dass sie ihr ins Gesicht schauten.

"Ja, danke", räusperte sich der eine. "Ich glaube, wir haben hier keine Leiche."

Das Mädchen in der Tür war totenbleich. "Kleines, geht's Dir nicht gut?" Niaji schaut sie mit einem mitfühlend geheuchelten Blick an. Erst hatte sie diesen Balg vor dem Kerl gerettet, und sie hatte nichts besseres zu tun, als ihr die Wache auf den Hals zu hetzen. "Ich glaube, Du solltest lieber endlich nach Hause gehen". Niajis Stimme war zuckersüß. Das Mädchen schien aber zu verstehen, was gemeint war und rannte wie von einer Schlange gebissen davon.

Niaji schüttelte den Kopf. "Kinder", sagte sie. "Dabei habe ich sie gar nicht mal richtigen kennen lernen können, als ich ankam. Der gute alte Learog wollte sie mir vorstellen, als ich heute hier ankam, aber sie war gleich schreiend davon gelaufen. Aber sie wissen ja sicher, wie er ist. Geduld war nie seine Stärke, also ist er gleich aufgebrochen. Hat was von einem Auge der Septerra gefaselt, und dass ich hier Acht geben soll.

Möchten die Herren vielleicht einen Tee?"

Der eine nickte, und der andere schüttelte den Kopf. Da der Sprachführende das Nicken äußerte und wohl anscheinend mehr zu sagen hatte, blieben die beiden noch eine Weile, und Niaji konnte die beiden geschickt über die Örtlichkeiten der Stadt ausfragen. Sie bekam sogar das Angebot, dass ihr persönlich gern Geleit geboten würde, während sie hier wäre. Das ginge zwar natürlich nicht während sie Dienst hätten, weil ihr Hauptmann sie für eine solche Aufgabe nicht freigäbe, aber bestimmt würde niemand nach Dienstende an ihrer Autorität zweifeln, falls sie dann auch weiterhin im Wappen gekleidet blieben.

Rhoana und Niaji lachten an diesem Abend herzlich miteinander, als sie die Geschichte erzählte. "Männer", hatten sie beide nur gesagt, und damit alles ausgedrückt, was ihnen dabei in den Sinn gekommen war.

Am kommenden Tag waren die beiden dann auch tatsächlich bei ihr aufgekreuzt, und an den folgenden Tagen kamen sie sogar abwechselnd zu ihr, da sich ihre Dienstzeiten nicht mehr überschnitten. Niaji kam sich ein bißchen vor, wie eine Herrin von Mirsza, die über einen eigenen Begleitschutz gebot. Für sie hatten die beiden in etwa den Status von Hunden, die man zu seiner persönlichen Freude hielt, und ihnen Wasser und Fleisch vorwarf, damit sie nicht wildern gingen. Und niemand hinterfragte es, dass sie mehr und mehr als Eignerin des alten Hauses auftrat. Fast war es so, als würden die Nachbarn aufatmen, mit jedem weiteren Tag der verstrich und kein Learog auftauchte.

Sogar das Mädchen tauchte bei ihr auf. Mit eingezogenen Schultern war sie vor der Tür gestanden, und im Hintergrund standen ihre Eltern. Niaji bat alle einzutreten. Als sich Niaji mit einem frisch aufgegossenem Tee zu ihnen setzte, begann der Vater der Kleinen zu reden.

"Was immer ihr getan haben mögt, Frau Salaar", setzte er an, und Niaji war doch überrascht, dass sie sich vorher anscheinend über sie informiert hatten, bevor sie hierher kamen, "wir sind froh, dass wir unser Kind wieder in Armen halten können. Sie war völlig verstört zu uns zurückgekehrt, und es hat gedauert, bis wir davon erfuhren, was hier passiert sein soll. Sicher werdet ihr es leugnen wollen, daher bringe ich es gar nicht weiter zur Rede. Wir möchten Ihnen einfach nur danken, dass sie unser Kind wieder nach Hause haben kommen lassen."

Er legte einen Beutel auf den Tisch, der anscheinend mit Münzen gefüllt war, und ohne den Tee auch nur anzurühren erhoben sich die Drei. Das kleine Mädchen hatte Tränen in den Augen, konnte aber Niaji nicht ansehen. Sie schien sich vor ihr zu fürchten. "Es tut mir so leid für Dich, Kleines", brach Niaji das eingesetzte Schweigen. Dann strich sie ihr über den Kopf und spürte sie zittern. Der Anblick stimmte sie traurig. "Weißt Du. Nur Du selbst kannst die Wunden wieder heilen". Ihre Stimme wurde nun ganz sanft, als sie sich herabgleiten ließ, um dem Mädchen in die augen zu schauen: "Geh nach Hause, Mädchen. Niemand wird Dir mehr etwas antun. Das verspreche ich Dir."

Ein zaghaftes Lächeln war die Antwort, die sie erhielt, und sie war sich sicher, dass dieses Herz bald seinen inneren Frieden finden würde.

Als sie oben ankamen, fragte Niaji die Familie noch, wo sie denn überhaupt lebe und versprach ihnen, dass sie bald zu ihnen kommen würde. Und diesmal waren es keine leeren Worte, wie damals zwischen Uramo und ihr gewesen. Diesmal meinte sie es ehrlich. Sie hatte keine Wut mehr auf das arme Ding, sondern nur noch Mitleid.

Gleichzeitig war da noch etwas anderes, was sie nicht recht einordnen konnte, aber Rhoana sagte es ihr an diesem Abend noch ziemlich platt vor den Kopf: "Du hast Muttergefühle, Anni! Schau mal. Du bist in einem Alter, wo die anderen Frauen um Dich herum schon längst mit einer dicken Kugel herumlaufen, oder an jeder Brust einen säugen müssen. Das ist doch ganz klar." "Du spinnst! Seh ich aus, wie eine von diesen Ammen?" "Lüg dich nicht selbst an, Jiji. Uramo hast du ja weglaufen lassen." "Hör doch auf. Ich wollte ihn gar nicht." "Sicher. Du wolltest ihn gar nicht." Rhoana lachte herzhaft, und Niaji, die überhaupt keine Lust mehr auf dieses Gespräch hatte, ließ den Zauber enden.

In dieser Nacht träumte sie von Uramo.

"Das war gestern aber überhaupt nicht nett", beklagte sich Rhoana. "Mich einfach so fort zu schicken. Aber mit Deiner toten Freundin kannst Du es ja machen". Rhoana wendete sich betont schmollend von Niaji ab. "Anni. Es tut mir leid. Du hast ja recht. Ich hätte Uramo nicht weggehen lassen dürfen. Ich hätte doch über seinen Antrag damals nachdenken sollen. Ich war zu engstirnig." "Du warst dumm!" "Ja, gut. Ich war dumm." "Nein, du warst selten dämlich!" "Ja, ich war selten dämlich. Ich war einfach nur bescheuert. Wie konnte ich nur so einen Mann mit einer anderen gehen lassen?"

"Besuch ihn doch einfach."

"Das meinst Du doch nicht ernst?"

"Sicher meine ich das ernst, Dummerchen. Wenn Du Glück hast, ist sein Weib gerade kugelrund, fett und stinkt und er wird froh sein mit Dir..."

"Anni!"

Entrüstet schaute Niaji ihre Freundin an. Aber der Gedanke hatte etwas reizvolles. Sie mußte kichern. "Na, siehst Du. Ich wußte doch, dass Dir der Gedanke gefällt", grinste Rhoana. Niaji warf ein Kissen durch das Geisterwesen. "Du bist wirklich eine kleine Schlange, weißt Du das?"

"Dann passen wir ja prächtig zusammen", feixte Rhoana. Und im weiteren Gespräch wurde die Frau von Uramo langsam zu einer fürchterlich abschreckend aussehenden Gestalt, und er zu einem dahin darbenden Mann, der auf die große Liebe seiner Jugend wartete. Niajia träume auch diese Nacht von ihm. Ihr Gesicht war geziert von einem Lächeln.

Es dauerte noch ein paar Tage, bis Niaji es geregelt hatte, dass ihr Haus (niemand sprach mehr von Learog) nicht unbewacht blieb. Und endlich war sie aufbruchbereit. Ein kleiner Wagen, ein bißchen Gepäck und genug Verpflegung, dass sie unterwegs so selten wie nötig etwas einkaufen mußte.

Und tatsächlich verlief die Reise angenehmer, als sie gedacht hatte. Ein einziger Räuber hatte versucht ihr die Barschaft abzunehmen, aber als sie einen winzigen kleinen Zauber anwandte um ihn mit einem Schlangengesicht zu begegnen, war er davon gelaufen. Und sie hätte sich gewiß nicht gescheut, diesem Kerl das Gift in seine Adern zu spritzen, wenn es nötig gewesen wäre. Dabei war er selbst noch so jung gewesen. Bestimmt war er nicht älter als sie gewesen, und dann dachte sie daran, wie gut sie es doch eigentlich hatte, dass sie nicht betteln oder rauben mußte, um zu überleben. Finster schob sich die Erinnerung an den Bettler in den Vordergrund. Was war aus ihm geworden, der nach Brot lechzte, wo sie Braten genoß. Ihr Mund wurde trocken, und rasch trank sie einen Schluck, obwohl sie gar nicht durstig war.

"Kladramat", sprach sie zu sich selbst, als der Ort vor ihr lag. Hier irgendwo lebte Uramo mit seiner dicken fetten runden Frau, die sich schimpfend und sabbernd durch sein Haus rollte. Niaji kicherte bei dieser Vorstellung. "Uramo, Deine Rettung naht", sagte sie und schnalzte mit der Zunge. Das Pferd setzte sich wieder in Bewegung.

Gewohnt, die Wachleute beinahe schon befehligen zu können, zeigte sie sich ebenfalls etwas zu überheblich gegenüber den Wachleuten am Tor von Kladramat, was dazu führte, dass diese sofort ihre Pieken vor ihrem Pferd kreuzten. "Den Göttern zum Gruße, werte Frau. Führt ihr Waren mit Euch, die ihr zu verkaufen gedenkt?"

"Seh ich aus, wie eine Marketenderin? Reisen Eure Händler jetzt mit leichten Reisewagen?", setzte sie schnippisch zurück, ohne die Frage direkt zu beantworten. "Dann müssen wir wohl selbst nachsehen", stellte der andere nüchtern fest. "Würdet ihr bitte absteigen, damit ihr meinen Freund hier nicht über den Haufen fahrt, während ich mich in Eurem Wagen umsehe?"

Niaji sah ein, dass sie einen Fehler gemacht hatte und gab nach. Sie lüftete die Kutschdecke und glitt vom Wagen herab.

"Vernio steh uns bei!"

Sofort waren beide Spitzen auf sie gerichtet, und Niaji konne nur die Augen verdrehen. Hier kannte man sie ja auch noch nicht, und natürlich waren die Menschen immer ziemlich ängstlich mit ihr umgegangen, bis sie sie etwas näher kannten.

"Entschuldigt bitte, meine Herren". Sie deutete auf die beiden Spitzen vor sich. "Würde es Ihnen etwas ausmachen, diese Dinger woanders hin zeigen zu lassen? Ich bin ein Mensch wie Ihr, auch wenn ich da unten vielleicht ein wenig anders aussehe. Ich möchte auch niemanden mit meiner Lebensgeschichte langweilen, aber früher hatte ich auch mal zwei Füße, bevor ich einem Magier in die Quere kam, dem das nicht gefiel. Es wäre also sehr nett, wenn sie jetzt meinen Wagen zerlegen, oder sonst was damit machen, mich aber endlich einfahren ließen, denn ein Freund erwartet mich schon seit einiger Zeit. Uramo ist sein Name, und er wohnt hier mit einer gewissen ... Milanida. Nein? Kein Begriff. Schade. Ich hoffte, jemand würde mir weiterhelfen können ihn vielleicht sogar noch heute zu finden. Außerdem wäre mir sehr gedient, wenn ich wüßte, in welchem Gasthof ich dann bestens untergebracht wäre, solange ich hier bleiben muß."

Die beiden schauten sie bei diesem Redeschwall etwas fassungslos an.

"Gut, also ob ich Waren habe? Nein, ich habe keine Waren bei mir. Das einzige, was ich noch habe ist Wasser und hartes Brot. Dann noch Wein und trockenes Dörrobst für etwa drei Tage, obwohl mir das Zeug mittlerweile so aus dem Hals heraushängt, dass es sicher für sechs reichen wird."

Die beiden tauschten einen unsicheren Blick aus.

"Oh, und natürlich habe ich auch ein Dokument, dass mich als Bürgerin von Mirsza ausweist bei mir."

Der eine nickte wortlos und streckte ihr eine Hand entgegen.

"Momentchen. Hier habe ich es". Sie holte das entsprechende Dokument aus ihrer Tasche und war froh, dass sie kurz vor der Abreise sogar noch daran gedacht hatte. "Frau Salaar", sprach der eine, und sie verbesserte "Fräulein Salaar" und lächelte zuckersüß. "Bisher hat es ja noch kein Mann geschafft das kleine Herz hier drin", der Handbewegung folgten zwei Augenpaare, "zu entzücken. Aber vielleicht..."

Sie lächelte.

"Ähm... Darf ich das wiederhaben? Danke". Sie nahm ihr Dokument wieder an sich, ohne darauf zu warten, dass er es ihr tatsächlich herüber reichte. Dann schlüpfte sie rasch wieder auf den Wagen und nahm die Zügel zur Hand. "Einen angenehmen Aufenthalt", leierte der eine den anscheinend hier üblichen Begrüßungsspruch herunter und ließ sie durchfahren.

Kaum waren ihre Räder an den beiden vorbei, hörte sie auch schon die Stimme des einen zum anderen sagen: "Hast Du das gesehen? Da würde ich gern mal wissen...". Der Rest ging im Rumpeln der Räder unter, aber Niaji wußte genau, was er meinte. Aber er würde es sicher nicht von ihr erfahren. Dessen war sie sich sicher.

Den Wagen durch die Straßen lenkend sprach sie beinahe jeden an, den sie unterwegs traf, bis sie tatsächlich endlich jemanden fand, der wußte wo Uramo und seine Familie wohnten. Niaji lächelte, während sie der Beschreibung nachfuhr.

Er hatte eine kleine Zauberwerkstatt, und das Schild vor der Tür verriet, dass er sein Geld mit der Verzauberung von Gegenständen mit kleinen Zaubern und der Unterhaltung von Lebenden mit ihren verstorbenen Angehörigen verdiente. Üppig war die Auswahl nicht, aber anscheinend reichte es wohl gerade dafür, dass sie dieses Haus hier hatten mieten oder kaufen können.

Und während Niaji noch das Schild zuende las, kam Milanida herausgetreten. "Kann ich Euch helfen", fragte sie bevor sie Niaji wiedererkannt hatte. Niaji selbst kramfte es das Herz zusammen, als sie die junge Frau dort stehen sah. "Niaji?", kam es ihr überrascht entgegen. Wie konnte sie nur so gut aussehen? Ihr Leib war gezeichnet von werdendem Leben darin, doch trotzdem war sie immer noch genau so hübsch oder vielleicht sogar noch hübscher als bei der Hochzeit. "Milanida", begrüßte Niaji sie. "Was treibt Dich denn hier her?"

Sie spürte keinerlei Zeichen von Eifersucht bei Milanida und fühlte sich schäbig. Noch schlimmer war es, als sie von Milanida herein gebeten wurde, und sie ihr gleich etwas von der gerade frisch auf dem Herd kochenden Brühe in eine sauber geschnitzte Holzschüssel füllte. "Du mußt hungrig sein, nach der langen Fahrt", plauderte sie los. "Sag, wie ist es Dir ergangen. Wir haben ja gar nichts mehr von Dir gehört. Uramo dachte schon, Dir sei etwas zugestoßen, aber dann hat er gesehen, dass es Dir gut ging. Wieso bist Du denn nicht eher gekommen?"

Es wurde eine recht einseitige Unterhaltung, denn Niaji fühlte sich ob der Freundlichkeit von Milanida immer unwohler, was diese anscheinend überhaupt nicht zu bemerken schien. Als Uramo nach einem Hausbesuch wiederkam, was irgendwie fast nach einem Arzt klang, hüpfte Niajis Herz in die Höhe und bildete einen fürchterlichen Kloß im Hals. Seine Frau schien das alles nicht zu bemerken. Waren werdene Mütter so, fragte sich Niaji. Wollte sie nur nicht sehen, was passierte, als er sie zum Gruß umarmte, wie sie ihm nur zaghaft die Hand hingestreckt hatte. "Ach, Niaji. Ich bin so froh Dich gesund zu sehen", hatte er gesegt. "Und jetzt erzähl mal! Ich wollte ja nicht unhöflich sein und schauen, wie es Dir ergangen ist. Ich habe nur ein oder zwei Mal nachgesehen, ob Du auch wirklich noch lebst. Sind meine Briefe gar nicht angekommen?"

Sie hatte sie alle ungelesen zerrissen. "Nein. Ich weiß auch nicht. Ich dachte, Du hättest mich ganz vergessen, nachdem ihr Glücklichen", er nahm seine Frau jetzt herzlich in der Arm, "fortgereist ward". Wieso nur tat es so weh, die beiden so glücklich zu sehen? "Na ja, aber irgendwann dachte ich, dass ich selbst mal gucken muß, ob es Dir ... Euch noch gut geht. Und ich bin ja nicht so gut im Sehen, wie Du Uramo. Das weißt Du ja."

Nun wurden einige alte Geschichten ausgetauscht, und als der Abend spät wurde, gab Milanida ihrem Mann einen Kuß und verschwand mit einem "Ich bin müde, Liebster" aus dem Raum. Zwei Minuten später tauchte sie mit einem Bündel Decken auf dem Arm wieder auf. "Und natürlich bleibst Du unser Gast, bist Du wieder abreist, Niaji. Hier vorn sind die Dielen angenehm warm vom Feuer, und Du wirst sicher gut schlafen können". Mit kundigen Händen hatte Milanida eine provisorische Schlafstätte dort rasch aufgebaut und verschwand mit einem letzten Kuß an Uramo.

"Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin", eröffnete Uramo das Gespräch als seine Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte. "Ich weiß, dass Du die Briefe nicht gelesen hast. Ich wäre ein wirklich schlechter Weissager, wenn ich nicht mal das herausfinden würde."

Niaji kam sich nun in die Enge gedrängt vor. Wieviel wußte er noch? "Wieviel weißt Du noch?"

"Willst du es mir nicht lieber selbst sagen?"

Dieser blöde Kerl. Entweder er wußte wirklich alles, oder er konnte einfach nur gut bluffen. Aber das war ja auch sein Job. Ein bißchen echte Magie und ein bißchen Scharlatanerei. Und dann dieser fordernde Blick, der einen sagt: "Jetzt offenbare mir endlich Dein Innerstes, ich kenne es sowieso schon alles".

"Also gut. Wahrscheinlich kann ich es eh nicht vor Dir geheim halten. Ich war dumm genug zu glaube, ich könnte Dich Milanida wegnehmen". Er schaute sie nur an. "Na, ich habe mir eingebildet Du würdest sie nicht mehr lieben, und dann bräuchte ich nur kommen und...". Er schaute immer noch einfach nur streng zu ihr herüber. "Weißt Du. Als ihr beiden weg gezogen seid hast Du mir immer geschrieben, und ich habe jeden Brief zerrissen". War da vielleicht doch ein Schimmer des Erstaunens in seinem Blick? "Ich hatte einfach Angst vor dem Moment wieder vor Dir zu stehen und wie ein dummes kleines Mädchen nicht mehr zu wissen, was ich sagen soll. Und dann war das dieses Mädchen, was von Learog wie eine Leibsklavin gehalten worden ist. Und ich habe sie da raus geholt. Und dann hab ich da gelebt. Und dann ist sie wieder dahin gekommen. Und sie hat sich bei mir bedankt... Und sie war doch noch so unschuldig..."

Tränen rannen ihr langsam aus den Augen.

"Dieser Mistkerl. Und dann hat Anni gesagt, ich hätte Muttergefühle, weil ich sie so mag, die Kleine". Jetzt schien er tatsächlich überrascht zu sein, aber der Redeschwall ließ sich jetzt nicht mehr stoppen. "Und dann habe ich von Dir geträumt. Und sie hat gesagt, dass ich Dich immer noch lieben würde. Uramo. Ich habe Dich geliebt. Damals schon. Und dann hast Du Milanida getroffen. Und... das tat so weh. Uramo, ich liebe Dich."

Sie fühlte sich beschämt über das Geständnis, doch ihn schien das wenig zu überraschen. Er nahm nur ihre Hand herüber und küßte sanft den gezeichneten Handrücken.

Und als er sich spät in der Nacht aus den Decken herausstahl, wußte Niaji sicher, dass sie ihn nicht für immer gewinnen konnte. Sie lag lange wach und fühlte sich noch schäbiger als am Vortag, als Milanida sie mit gewohnter Freundlichkeit umsorgte. Sie log sich etwas zusammen von Geschäften, die sie hier heute zu erledigen hatte, und verschwand ohne noch einmal wieder zu dem Haus zu gehen.

Der Brief, den sie einige Zeit später erhielt war von Milanida. Und diesmal zerriß sie ihn nicht, sondern öffnete ihn vorsichtig:

Liebe Niaji,

bitte gräme Dich nicht mehr wegen des Geschehenen. Ich grolle Dir deswegen nicht, noch empfinde ich schlecht. Ich freue mich, dass ich Dich als unseren Gast empfangen durfte, und Du unser Angebot angenommen hast diesen Tag mit uns zu teilen. Uramo wußte lange vorher, dass Du kommen würdest, und ich hätte ihn mit Dir ziehen lassen, wenngleich es mich mit Trauer erfüllt hätte. Doch noch mehr Trauer hätte sich auf meine Seele gelegt, wenn ich ihn zu einem Versprechen zu stehen gezwungen hätte.

Ich kann nicht sagen, dass mir der Gedanke gefallen hat, als Uramo mit mir darüber sprach. Andererseits wäre sonst Dein Herz eben so schwer geworden, wie meines von Zweifeln geplagt worden wäre, wenn alles im Ungewissen geblieben wäre. Ich weiß, dass unser Gesetz es zuläßt, dass eine Frau eine andere das Teilen ihres Heims und Herds gewährt. Solltest Du diesen Wunsch haben, so bist Du in unserem Heim willkommen.

Milanida

Niaji klammerte sich schluchzend an dem Brief fest, und las den letzten Satz wieder und wieder. Dann blickte sie zu dem Spiegel herüber, den sie hier oben hatte herstellen lassen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder Uramo und Milanida innig nebeneinander stehend sich umarmen. Und daneben sah sie sich. Sie würde immer nur die geduldete Zweitfrau sein. "Was willst Du eigentlich?", fragte sie ihr Spiegelbild.

Sie rutschte vom Bett zum Sekräter herüber und begann selbst einen Brief zu schreiben:

Liebste Milanida,

ich weiß nicht, ob Du mit Uramo über Dein Angebot mir gegenüber gesprochen hast. Falls nicht, dann lasse es lieber sein. Es reicht schon, dass ich Dir deinen Mann in jener Nacht geraubt habe. Du sollst nicht wegen mir noch weitere kalte Nächte erleben. Sollte Uramo Dich dazu angestiftet haben, mir diesen Brief zu schreiben, weil er vielleicht weiß was ich noch nicht weiß, so möchte ich sagen, dass ich auch in dem Fall nicht kommen werde, falls ich ein Kind von ihm bekommen werde.

Ich weiß, dass Du ihn sehr liebst Milanida. Ich würde Euer Glück mit meiner Anwesenheit nur stören. Ein bißchen spricht auch der Stolz aus mir, wenn ich dir dies schreibe, denn lieber hätte ich ihn für mich allein, als ihn teilen zu müssen. Aber wir hatten unsere Chance vor einiger Zeit. Diese habe ich vertan, obwohl ich mir eine zweite stehlen wollte. Gib Deinem Mann einen Kuß von mir und schenke ihm noch viele Kinder.

Niaji

Rhoana hatte ihr noch einige Vorwürfe in der kommenden Zeit gemacht, denn die Entscheidung war nur vom Verstand getroffen worden. Am liebsten hätte sie allen Krempel verkauft und sich sofort auf den Weg zu ihrem Liebsten gemacht. Natürlich machte sie sich auch selbst ständig Vorwürfe, dass sie so entschieden hatte, aber ihr Verstand sagte ihr immer wieder, dass dies so richtig sein mußte. Glauben wollte sie es natürlich selbst nicht.

Es hatte lange Zeit gedauert, bevor sie wieder einen Brief erhielt. Ein halbes Kaloei war sicher vergangen. Dann müßte eigentlich der kleine Nachkomme da sein, überlegte sich Niaji. Und sie erlebte Gewißheit, als sie den Brief las. Sie sollte Patin für Nilana werden. So hieß der kleine Fratz also, den die beiden hatten. Ein süßes Mädchen. Niaji seufzte. Jetzt war sie also gezwungen wieder rüber zu fahren.

Die Feier war schlicht, und das Geschenk Niajis war wohl ein wenig zu teuer ausgefallen, wenn sie die anderen Geschenke betrachtete. Aber es hatte natürlich kein zurück mehr gegeben, und so zierte eine goldene Kette mit Nilanas Namen als Gravurplakette darin gebettet das Ende der kleinen Wiege. Milanida legte ihren Arm um Niaji, und schaute mütterlich verliebt in das kleine Bettchen. "Sie ist wunderschön", stellte Niaji ehrlich fest. "Und dieses süßen kleinen Hände und Füßchen". Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wußte nicht recht, ob sie traurig oder glücklich war. Es war einfach nur seltsam hier zu stehen, und dieses unschuldige kleine Etwas zu sehen.

"Ganz die Mama", schniefte sie und lächelte ein wenig gepreßt. Milanidas Blick war für einen kurzen Moment auf Niajis Bauch gewandert. Hatte sie vielleicht befürchtet, dass ihr Mann auch ihr ein Kind geschenkt haben könnte? "Ich hoffe Tistiim macht es Dir leichter, Dein Glück zu finden, kleine Dame". Sie streichelte sanft die Ärmchen und Beinchen des Säuglings mit der gezeichneten Hand. Milanida, die dies anscheinend falsch verstanden hatte, setzte vorsichtig an: "Du kennst mein Angebot, Niaji. Ich stehe auch jetzt noch dazu."

Lächelnd schüttelt Niaji den Kopf. "Nein, Milanida. Auch mich alte Frau wird noch irgendein hübsche Recke haben wollen."

Beide lachten.

Und es tat gut.

Als Uramo zu den beiden hineintrat, bemerkten sie ihn erst, als er sie beide in den Arm nahm. "Worüber lacht ihr beiden denn so?" Und er schaute neugierig in die Wiege. Niaji schluckte schwer, denn es tat gut hier zu stehen. Milanida schaut zu ihr herüber. Uramos Blick folgte dem seiner Gattin. Niaji stieg das Blut zu Kopf, und sie versuchte sich nur auf die kleine Nilanda zu konzentrieren. Verdammt. Das hatten die beiden doch zusammen ausgeheckt!

"Und?" Seine Frage zerteilte Niajis Gedanken. Was meinte dieser verdammte Hellseher nun bloß wieder mit seiner Frage? Ihre Wangen glühten, und sie wendete sich vorsichtig den beiden erwartungsvoll schauenden Gesichtern zu. "Sag mal, Uramo, gibt es eigentlich irgendwas, was Du nicht schon vorher weißt?", versuchte sie die Situation zu retten, in der sie sich zu befinden glaubte. Er schaute nur weiter direkt in ihre Augen, wie auch Milanida dies tat. Und beide wirkten so verdammt glücklich. Wie sollte sie das nur ertragen?

"Also gut."

"Also gut, was?" Uramo wirkte nun irritiert.

"Sie bleibt", frohlockte seine Gattin.

Nun stierte er seine Frau entgeistert an. "Wie? Was meinst Du mit: sie bleibt."

"Ich dachte, Du erzählst Deinem Mann alles und diese blöde Kerl sieht alles. Verdammt Uramo, Du weißt gar nichts von Milanidas Angebot?"

Uramo schaute jetzt noch ein bißchen dämlicher drein, als er sich Niaji zuwendete, und sie mußte lachen.

"Ich weiß, dass Du sie auch liebst, mein Herz", säuselte Milanida ihm zu. "Oder meinst Du, ich hätte nicht gemerkt, wie Du dich spät nachts unbekleidet in unser Schlafzimmer zurückgeschlichen hattest?"

Nun schaute Niaji verdutzt zu Milanida. Er hatte ihr gar nichts erzählt. Also hatten sie auch nicht vorher gewußt, dass sie zu ihnen kommen würde. Es war tatsächlich alles nur Zufall gewesen. So entging Niaji völlig in kreisenden Gedanken versunken der Rest des Gesprächs. Uramo küßte Milanida von ganzem Herzen, und auf einmal sank er vor Niaji auf die Knie, was sie wieder zurück zu den Tatsachen brachte. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. Das passierte jetzt nicht wirklich. Das war sicher nur ein Traum.

"Niaji Salaar, ich knie hier vor Dir im Angesicht meines Weibes und bitte Dich zu teilen Herd und Heim mit uns. Willst Du an meines Weibes Seite treten und meine Frau werden?"

Verdammt, wo war einer, der sie zwickte so dass sie endlich aufwachen möge? Dies hier konnte nicht wahr sein. Das war einfach zu schön. Milanidas und Uramos Blicks waren unsicher geworden. Die Sekunden verrannen, das Herz schlug Niaji fürchtlich laut in ihrem Hals, und irgendeine fremde Stimme krächzte ein "ja" hervor. War sie das gewesen? Hatte sie das eben gesagt? Uramo war aufgesprungen und hielt sie umarmt. Alles war wie im Nebel. Sie wurde zwischen Milanida und Uramo nach draußen geschoben, wo die Gesellschaft noch feierte.

Milanidas Stimme erhob sich, und die Musik hielt ein.

"Hier stehen wir, Uramo vom kargen Felde und Milanida vom kargen Felde geboren im Schoße deren vom Eichenhain, und ich verkündige hiermit feierlich, dass ich das Gelöbnis meines Mannes als sein Weibe hörte und heiße Niaji, geboren im Schoße der Salaar, willkommen mit mir Heim ein Herd zu teilen, so wie es das Recht gewährt."

Und so wurde aus der schlichten Feier dem Kind Paten zu geben, eine Verlobungsfeier, die Niaji mehr als zu einer Patin machen sollte. Ihr schwindelte. Noch mehr schwindelte ihr am späten abend, aber das lag wohl dann eher daran, dass sie Wein in solchen Menge noch nie zu sich genommen hatte. Aber irgendwie hatte ein jeder mit dem neuen Glück nochmals anstoßen wollen, und so wurde doppelt so viel getrunken.

Niaji erinnerte sich am kommenden Morgen noch dumpf daran, dass sie Geld aus ihrer Börse geholt hatte, als sie merkte, dass Uramo und Milanida keinen Nachschub an Wein mehr hätten bezahlen können. Und plötzlich war sie hellwach. Der Kopf tat ihr nur weh. Heim und Herd teilen war eine hübsche Umschreibung, dachte sie vorsichtig um die Schmerzen in ihrem Kopf nicht zu sehr anzuregen.

Am Tag der Hochzeit nahm sie sich vor, nicht wieder so viel zu trinken, aber das war gar nicht nötig, da sie so sehr an diesem Tag eingespannt waren, dass sie sogar noch am nächsten Morgen noch nüchtern war, als sie zu dritt den letzten Gast verabschiedeten. An eine Hochzeitsnacht war vor Erschöpfung gar nicht mehr zu denken, und Niaji tröstete sich die drei Sekunden vor dem Einschlafen damit, dass sie dies ja sowieso schon vorgezogen hatten. Uramo schien da anderer Meinung zu sein, und so holten sie zum Frühstück nach, was in der Nacht versäumt wurde.

"Milanida?", fragte sie nach einer Weile. Uramo war mittlerweile wieder ins Land der Träume entglitten.

"Ja, Niaji."

"Ich versteh es nicht."

"Was meinst Du?"

"Wieso hast Du mich zu Euch eingeladen? Und wieso hast Du das hinter seinem Rücken getan? Du hast mich schändlich angelogen."

"Bist Du unglücklich?"

"Nein."

"Aber Du warst es. Und Uramo auch. Meine Ohren sind in der Nacht auch nicht taub. Er hat von Dir geträumt und Deinen Namen genannt. Und ich habe gemerkt, dass er unglücklich war, nachdem Du diese Nacht hier verbracht hattest. Niaji?"

"hm?"

"Du wirst ihn mir nicht wegnehmen, oder?"

Eine kurze Stille trat ein, und Milanida setzt sich auf, um Niaji anzuschauen. Diese schüttelte lächelnd den Kopf. "Nein, Milanida. Ich nehme ihn Dir nicht weg. Und Milanida ... danke."

Milanida lächelte nun ihrerseits. Niaji ließ ihren Kopf auf das Kissen zurückfallen.

"Das war ganz schön anstrengend."

Milanida kicherte.

Niaji runzelte die Stirn. "Die Feier meine ich", und es begann eine wilde Kissenschlacht dessen Sieger die Weber waren, bei denen sie neue Bezüge bestellen mußten.

Niaji war glücklich. Doch mußte sie auch wieder an das kleine Mädchen denken, dem sie zu kommen versprochen hatte. Sie sprach mit Milanida und Uramo darüber, dass sie dieses Versprechen schon vor fast einem ganzen Kaolei gegeben hatte, und sie sich unwohl fühlte, wenn sie dieses Mädchen jetzt nicht besuchen würde. "Und wer weiß", hatte sie noch über ihren Bauch reibend hinzugefügt, "wie lange ich noch reisefähig bin?"

Sie alle hatten herzlich gelacht und sich mit vielen Küssen und Tränen voneinander verabschiedet. Sie wolle ja nicht lang wegbleiben hatte Niaji gesagt, aber irgendwie hatte sie trotzdem ein ungutes Gefühl beim Aufbruch.

Diese Reise war wirklich unangenehm. Sie wurde doch tatsächlich drei Mal überfallen und mußte sogar beim letzten Angriff zwei Menschen töten, weil sie sich nicht von ihrer Erscheinung abschrecken ließen. Die übrigen Zwei waren dann doch erschreckt davongelaufen, als sie sich schlagartig nicht mehr sicher waren, ob sie weiter gegen eine Magiebegabte kämpfen wollten.

Erschöpft war sie in einem Gasthaus nahe des Hafens untergekrochen, denn nirgendwo sonst war noch ein Platz zu kriegen. Wahrscheinlich waren die Häuser nicht tatsächlich ausgebucht, denn sie konnte nicht entdecken, dass hier eine besondere Feierlichkeit herrschte, die solch einen Andrang bewirkt hätte. An diesem Abend hatte sie einfach nur mit Anni reden wollen, und war irgendwann dabei vor Müdigkeit eingeschlafen, während die blasse Gestalt noch einige Sekunden Bestand hatte, bevor sie sich auflöste.

Und doch hatte Rhoana gerade noch mit schreckweiten Augen sehen können, wie die Tür aufgestoßen wurde und ziemlich übel aussehende Gesellen leise in den Raum schlüpften. Sie hatte ihre Freundin noch warnen wollen. Irgendwas schreien, doch der Zauber war beendet. Ein fades schauriges Heulen war alles, was noch den Raum für einen kurzen Moment durchzog, und dann war sie fortgeweht.

Die Kerle hielten inne. "Hast Du das auch gehört?", flüsterte der eine hektisch. "Verdas, halt Dein Maul", zischte der Andere zurück. "Sonst enden wir wie Einohr und Rulig."

Niaji machte ein unruhiges Geräusch im Schlaf. Die Beiden blieben wie angewurzelt stehen und erst als sie wieder ruhig atmete, trauten sie sich wieder in Bewegung zu setzen. Ganz vorsichtig, Schritt um Schritt, bewegten sie sich lautlos um das Bett herum. Jeder nahm Stellung auf einer Seite. Ein Blick wurde ausgetauscht. Ein Nicken folgte, und dann wurde mit brutaler Gewalt eine Schlinge um Niajis Handgelenke und ein Knebel um ihren Mund gezerrt.

Schlagartig kam auch wieder Leben in Niaji. Sie versuchte sich verzweifelt zu wehren. Sie versuchte nach Hilfe zu schreien. Anni! Der Name wurde von übel schmeckenden Tüchern vor und in ihrem Mund verschluckt. Sie rang nach Atem. Die Lungen brannten. Ihr Brustkorb zog sich zusammen. Furchtbare Angst machte sich in ihr breit. Panik! Ihr Schlangenleib zuckte um sie herum, wollte treffen, wer immer dort war, doch sie wurde grob herunter gedrückt. Das Gesicht im Kissen. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Keine Luft! Grobe Stimmen, die zischelten, sie solle endlich aufgeben. Wohlige Schwärze umfing sie.

"Diese Dummköpfe hätten sie fast umgebracht. Wissen die denn nicht, wie man mit teurer Ware umgehen muß?"

Ein dumpfes Pochen war in Niajis Kopf. Es knirschte und knarrte. Sie öffnete die Augen, aber auch die waren verbunden, ebenso wie ihr Mund der einen furchtbaren Geschmack enthielt. Sie versuchte die Binde fortzureißen, aber ihre Hände waren auf ihrem Rücken gefesselt. Also versuchte sie mit ihrem Fußende die Binde von hinten über den Kopf zu streichen, aber anscheinend hatten sie auch dies verschnürt. Langsam wurde ihr bewußt, in welcher Lage sie sich befand.

Das dumpfe Knarren kam nicht aus ihrem Kopf, sondern stammte von dutzenden Riemen, die wieder und wieder ins Wasser getaucht wurden. Sie war auf einem Schiff, und man hatte sie anscheinend auf dem Boden vertäut. Wie eine Kiste, damit auch ja nichts von ihr hochzucken oder beiseite rutschen könnte.

Sie gab ein dumpfes Stöhnen von sich.

"Oh, mir scheint die Zauberfurie ist wach. Hast mich zwei gute Männer auf Landgang gekostet, Du kleines Biest." Ein schmerzender Fußtritt in die Seite preßte ihr die Luft aus den Lungen. Aber ich weiß schon, wie man mit Eurem Gesocks umgehen muß. Etwas zerrte ihren Kopf brutal an den Haaren herum, und die Stimme war jetzt direkt an ihrem Ohr: "Machst einen auf feine Dame, hab' ich gehört. Mal schauen, wieviel eine kleine Seeschlange wie Du uns einbringt, wenn wir Dich dahin verkaufen, wo Du keine feine Dame mehr sein wirst."

Barsches Gelächter ertönte, ihr Haar wurde losgelassen und der Kopf schlug schmerzhaft auf die Planke auf. Niaji stöhnte auf. Schritte waren überall um sie herum. Takelage knarrte und Segel knallten. Das dumpfe Dröhnen der Trommel und das Knarren der Ruder verebbte. Ihr kam es vor wie Tage, bis sich endlich wieder jemand zu ihr gesellte.

"Hier, gib ihr was, aber laß Dich nicht beißen!", raunzte die Stimme von vorhin. "Und Du, Seeschlange, laß Dir nicht einfallen einen Trick zu versuchen. Ein falsches Wort, und du wirst das Eisen in Deinen Lungen schmecken."

Irgendwer machte sich zitternd an ihrem Knebel zu schaffen, und die Stimme eines ängstlichen Jungen flüsterte, weil er hoffte so nicht von dem Inhaber der anderen Stimme gehört zu werden: "Bitte. Ich bin selbst nur ein Gefangener. Beiß mich bitte nicht."

Ihr Mund war frei, und sie benetzte ihre schmerzenden Lippen vorsichtig mit der Zunge. Alles schmeckte ranzig salzig. Dann wurde ihr etwas an den Mund geführt. Flüssigkeit rann aus dem hornig schmeckenden schlanken Ding. Wasser! Niaji trank gierig. Jemand lachte rauh über eine Bemerkung, deren Worte sie nicht erfaßt hatte. Dann wurde ihr etwas glibberiges in den Mund geschoben, wogegen sie sich wehren wollte. "Das ist Fisch". Die Stimme des Jungen zitterte. Niaji versuchte nicht darüber nachzudenken, dass der Fisch roh schmeckte. Sie überwand ihren Ekel und begann das Fleisch erst zu kauen und dann doch lieber ungekaut herunter zu schlingen, als es ihr nicht gelang.

"Wie heißt Du?", fragte sie nach einem weiteren Stück Fisch. Ein fürchterlicher Fußtritt in ihre Seite war die Antwort darauf. Der Knebel wurde ihr wieder grob umgelegt. "Ich habe Dir doch gesagt, Seeschlange: versuch hier keine Tricks!"

Tricks? Sie überlegte krampfhaft, ob sie nicht irgendeinen Zauber kannte, der ihre Fesseln lösen könnte. Wenn sie sich nur befreien könnte. Sicher waren sie noch nicht weit vom Land, und sie würde es schaffen zu fliehen.

Nach einer ungewissen Zeit hatte sie die Hoffnung auf Flucht aufgegeben. Die Prozedur wiederholte sich oft, und sie durfte kein Wort sprechen, sonst war das Essen sofort bis zum nächsten Mahl beendet. Das lernte sie ziemlich rasch, vor allem als der Hunger ihr schon fast den Verstand rauben wollte. Alles fühlte sich taub an. Waren es jetzt schon Tage, die sie hier so lag?

Auf einmal gab es einen Kampf. Leider schienen diese Gesellen als Sieger daraus hervorgegangen zu sein. Sie johlten und feierten jedenfalls selbstzufrieden bis in die späte Nacht. Sie hörte das kreischende Geräusch von ihr unbekannten Tierstimmen am kommenden Morgen. Es mußte einfach morgen sein, dachte sie sich.

Auf einmal wurden ihre Fesseln am Körper gelöst. Sie hätte um sich geschlagen, doch fühlte sich alles zu steif und fremd an. Zig Hände packten, zerrten und hoben sie. Dann wurde sie auf den Boden geworfen, und sie hörte etwas metallisches. Kurz darauf klickte es.

Nach einer Weile schaffte sie es sich langsam wieder zu winden, und schaffte es die Augenbinde vom Kopf zu streifen. Um sie herum kam es ihr fürchterlich grell vor, obwohl sie sich eindeutig in einer Art Laderaum befand. Das Licht fiel durch Ritzen von oben wie kleine Lanzen in das Innere, und um sich herum konnte sie drei Käfige erkennen. Behaarte vernunftlose, aber dem Menschen ähnliche Tiere kauerten sich dort schlafend in den Ecken zusammen.

Sie begann sich fürchterlich zu winden, und mit einigen Schmerzen schaffte sie es ihre Hände vom Rücken langsam auf die Vorderseite zu bringen. Das sah nicht gut aus. Sie war zwar keine Ärztin, aber der Anblick gefiel ihr nicht. Aber erst einmal diesen ranzigen Lappen los werden. Fahrig und zitternd löste sie den Knoten an ihrem Hinterkopf, bis sie endlich wieder frei durch den Mund atmen konnte.

Sie versuchte den Knoten an ihren Handgelenksfesseln mit den Zähnen zu öffnen, aber vergeblich. Der war durch Blut und Salz wie zusammengebacken. Sie selbst war ebenfalls in einem Käfig. Sie betrachtete die anderen drei Käfige noch einmal. In zweien saß jeweils nur ein Tier, und im dritten waren zwei. Wahrscheinlich war sie in einem Piratenschiffsleib, und dies hier war ihre Beute. Erschreckt dachte sie, dass sie selbst dann wohl auch nur als Beute angesehen wurde. Ihr Mut sank. Würde sie Uramo jemals wiedersehen? Und eine weitere Angst, noch viel tiefer beschlich sie. Was, wenn sie seinen Nachkommen in sich trug? Sie würden ihn sicher von ihr trennen. Sie rollte sich wimmernd zusammen und weinte.

Nach einer Weile öffnete sich die Luke, und ein halbwüchsiger junger Mann trat ein. Hinter ihm ein häßlicher Kerl, dessen Gesicht eine fette schlecht genähte Narbe zierte. An seiner Seite war ein Säbel, und schlanke Messer waren auf einem Gurt um seine Schulter griffbereit eingebettet. Sofort hatte er einen der Messer in der Hand und zum Wurf erhoben, als sie sich aufrichtete. "Verdammte Seeschlange!", schimpfte er. "Ein Wort, und Du hast dieses Messer in Deiner Zunge". Er wog das Messer, das zu werfen er sicher imstande gewesen war, in seiner Hand. Niaji senkte den Blick von ihm fort und versuchte dem Jungen ein mildes Lächeln entgegen zu bringen.

Der junge hatte einen freien Oberkörper, wenn man von ein paar Fetzen Kleidung absah. Und dieser Oberkörper war überzogen mit blutigen Striemen, wie sie verbittert feststellte. Hier wurde also sehr locker mit der Peitsche umgegangen. Was würde es nützen, wenn sie jetzt irgendwas tat? Sie waren weit fort von zu Hause, und sie wußte auch nicht wie weit die Küste entfernt sein könnte, und wenn sie oben keine zu Gesicht bekäme, so hätte sie nicht einmal eine Ahnung in welche Richtung sie schwimmen müßte. Nein, jetzt irgendeinen Trick zu versuchen wäre Dummheit. Außerdem wußte sie nicht wo Anni steckt. Hoffentlich hatten die Kerle den knorrigen alten Stock nicht zerstört. Sonst würde sie nie wieder mit ihrer Freundin reden können.

Alles war so hoffnungslos.

Sie ergriff den rohen Fisch mit den zusammengebundenen Händen, und ihr Blick fiel auf die gezeichnete Hand. "Tistiim", rief sie in Gedanken. "Was soll ich davon bloß halten? Kann sich dieses Unglück noch in Glück wenden? Was hast Du noch alles für seltsame Wege für mich bereit gestellt?"

Langsam bahnten sich kleine Tränen ihren Weg, und bis zum Ende des kalten Mahls waren daraus Rinnsale auf ihren Wagen geworden. Mit leidenem Blick schaute sie zur Luke hinauf, wo ihr Blick mit einem barschen Lachen quittiert wurde. "Ich glaub's ja nicht. Die kleine Seeschlange heult ja."

Wütend spuckte sie in seine Richtung, obwohl er zu weit entfernt war. Er wich dennoch aus, und verhöhnte sie. "An deiner Stelle würde ich nicht so mutig sein, wenn Du deinen Verkauf noch in einem Stück erleben willst."

Sie starrte ihn in plötzlicher Erkenntnis ihrer Gesamtsituation an, und er lachte ein böses abgehaktes Lachen. Wut flammte in ihr auf, aber er schien das in ihren Augen zu sehen und hob bedrohlich den Wurfarm. "Wag es nicht", zischte er. Sie funkelte ihn grimmig an, rollte sich dann aber wieder ein. Oben wurde die Luke geräuschvoll zugeschlagen, und als Niaji aufschaute, waren die beiden wieder fort gegangen.

Ständig hörte sie das dumpfe Pochen der Trommeln, welche den Takt für die Ruder angaben. Und immer wieder ferne Schreie von anderen Menschen, die gewiß die gierige Peitsche irgendeines Schinders kennenlernten. Man hatte ihr jetzt auch andere Fesseln an ihre Handgelenke befestigt, welche nicht mehr so sehr ins Fleisch schnitten, aber fürchterlich schwer waren. Sie hatte resigniert auf die beiden Metallringe geschaut, und ihre Hände ohne Gegenwehr hineingelegt, als man sie ihr schwer bewaffnet angelegt hatte. Reden konnte sie nur mit diesen geistlosen Wesen, wenn niemand sonst hier unten war, und sie hatte das Gefühl bald wahnsinnig zu werden, wenn dies so weiter ginge.

"Ich will Brot", hatte sie sich an einem Tag plötzlich zu sagen getraut, und war nur knapp dem reflexartig geworfenem Messer entkommen, dass genau auf ihr Gesicht gezielt war. Er hatte aber kein zweites Messer hinterher geworfen, also faßte sie den Mut weiter zu sprechen. "Ich kann nicht nur kalten Fisch essen. Welchen Wert habe ich für Euch, wenn ich krank dort ankomme, wo immer das auch sein mag".

"Du bist erstaunlich mutig, Seeschlange. Hatte ich Dir nicht das Sprechen verboten?" Sein Blick war hart, wirkte aber gleichzeitig belustigt, so als habe er einen Scherz gemacht, den sie hätte verstehen sollen. Seine Miene versteinerte sich. "Iß!", sagte er barsch, und mit einem Satz war er unten bei dem Jungen entriß ihm die Schale und warf den Inhalt in ihren Käfig.

Niaji faßte keinen Bissen an. Es kostete sie unglaubliche Überwindung den Fisch zu verschmähen, nagte der Hunger doch ständig an ihr, aber sie wollte ihren Willen jetzt durchsetzen. Und danach... Mal schauen.

Nach fast neun Tagen, an denen sie nur Wasser zu sich genommen hatte, bekam sie zum ersten Mal Brot zu ihrem Fisch. Schweigend aß sie beides. Sie fühlte sich elend.

Einige Tage später bekam sie plötzlich gutes Essen gereicht, wie ihr von dem Jungen gesagt wurde. Jedenfalls erhielt sie die gleiche Ration, wie die Piratenmeute selbst wohl auch. Wenige Tage später wußte sie auch warum: es wurde ein Hafen angefahren, und dort wollte man sie verhökern. Bis dahin sollte sie aufgepäppelt werden. Land würde wieder unter ihren Füßen sein. Vielleicht wäre es sogar leichter von dort zu fliehen?

Aber es war nur eine Insel, und dort wurde sie wie ein Stück Frachtgut zwischen ein paar finsteren Gesellen gehandelt, wurde aber auf das Schiff zurück verfrachtet, weil sie nicht den angestrebten Betrag erbrachte. Die hirnlosen haarigen Menschenähnlichen waren verkauft worden, und nun war sie allein in dem dunklen Raum, bekam wieder karge Verpflegung und stierte stumpf vor sich hin.

Und wieder wurde irgendwo ein Schiff überfallen. Und nach einigen Tagen wurde wieder ein Hafen angefahren. Diesmal war es ein echter Hafen, frohlockte sie innerlich. Hoffnung stieg langsam in ihr auf, aber als sie schon mit ihrem Käfig oben baumelte pfiff der Kapitän seine Leute zurück: "Die Seeschlange bleibt unten. Hier kaufen sie kein Fleisch."

Der Frachtraum um sie herum füllte sich nach ein paar Tagen auf hoher See wieder. Feine Stoffe stapelten sich um sie herum. Gern hätte sie die Lumpen an ihrem Körper gegen irgendwas aus diesen Stoffen dort getauscht. Egal was. So sagte sie einfach "Ich kann nähen" zu einem der rauen Gesellen, der hier unten die Sachen einlud. Er schien sie nicht gehört zu haben, und sie sank wieder in sich zurück.

"Wie gut kannst du nähen, Seeschlange?"

Barsch riß die Stimme sie aus unruhigen Träumen. Es dauerte einen Moment, bis sie etwas zu antworten wußte. "Ich bin eine gute Näherin", antwortete sie und hoffte, dass sie nicht zu sehr log. Es war schon recht lang her, dass sie selbst Nadel und Faden in der Hand hielt.

Er kam mit polternden Schritten zu ihr, und sein Atem stank nach Fisch und Rum. "Wag es nicht mich zu betrügen, Seeschlange!" Sie schüttelte wortlos den Kopf und hob vorsichtig ihre geketteten Hände. Er drehte sich um und ging wieder fort. Sie ließ ihre Hände samt Mut sinken und wollte sich gerade dem alltäglichen Stumpfsinn hingeben, als er in Begleitung zurückkehrte. Unter scharfer Bewachung löste einer seiner Leute ihre Handfesseln. Was für eine Wohltat war das!

Ihr wurde ein Stoffballen hineingeworfen, und sie schaute fragend auf. "Mach mir ein neues Hemd", sagte er barsch. "Ohne Nadel und Faden werde ich keines machen können", antwortete sie in möglichst neutralem Tonfall. Sein Kopf ruckte zu einem seiner Leute und gab ihm einen wortlosen Befehl. Kurz darauf hatte sie Nadel und Faden in ihren Händen. Mehr reißend bearbeitete sie den Stoff, und aus den einzelnen Bahnen flickte sie ein Hemd zurecht, dass dem Kerl vielleicht passen würde.

Sie bekam das Zeug am nächsten Tag um die Ohren gehauen. "Ich denke, du bist eine gute Näherin, Seeschlange? Seh ich aus wie einer, der einen Flickenteppich als neues Hemd tragen will?" Seine Stimme war gezeichnet vom Rum, dem er wohl kurz vorher zugetan gewesen sein mußte, bevor er hierher gekommen war.

"Wie soll ich ohne eine Schere den richtigen Schnitt bekommen, und Licht habe ich auch nicht genug", antwortete sie den Schlägen ausweichend. Ihre Arme brannten und waren gerötet von seinen kraftvollen Hieben. Grunzend war er nach draußen verschwunden, und sie war wieder allein. Sie nutzte die Zeit, um damit zu beginnen für sich etwas anfertigen zu wollen, als die große Ladeklappe geöffnet wurde, und helles Licht in den Laderaum strömte.

Ein Seil wurde zu ihr herab gelassen, und man hob sie samt Käfig auf das Deck hinauf. Wie gut die Luft hier oben schmeckte! Der Junge reichte ihr zitternd eine Schere, die fast schon zu klein war um damit arbeiten zu können, aber so war sie zumindest draußen. Ihre Finger schmerzten, und sie ließ sich gerade so viel Zeit, dass niemand merkte, dass sie nur möglichst viel davon auf Deck schinden wollte.

So dauerte es Tage, bis sie ein Kleidungsstück fertig hatte, aber sie war draußen und der Kapitän stolzierte am Ende ihrer Mühen prahlend auf dem Deck herum. "Unsere Seeschlange hat aus Eurem Käptn einen richtig feinen Pinkel gemacht. Heh, Seeschlange, was nähst Du eigentlich noch?" "Ein Beinkleid für Euch" Er lachte rauh. "Schaut Euch das an. Ich glaube, wir haben der Seeschlange ihre Giftzähne gezogen!" Um sie herum herrschte Gelächter. Niaji schäumte innerlich vor Wut. "Ein feiner Herr braucht auch ein feines Beindkleid", setzte sie hinzu und hoffte, dass man ihr die Wut nicht anmerkte.

Er lachte. "Jetzt schaut Euch das an. Heh Seeschlange, Du wirst doch nicht etwa Mütterchen für den alten Käptn spielen wollen?" Sie senkte den Kopf zu ihrem Nähzeug, damit er das kalte Funkeln darin nicht zu sehen bekam. "Ich will nur, dass ihr Euch selbst gefallt, wenn ihr in den Spiegel schaut." Sie hätte ihm am liebsten den Kopf von seinen Schultern getrennt und ihn auf einen Pfahl gespießt, den Körper irgendwelchen Haien vorgeworfen und darauf gehofft, dass sein marodes Hirn lange genug leben würde, dass er sah, wie seine Reste verspeist wurden.

Sie stach sich in den Finger.

Hastig steckte sie ihn in den Mund und schmeckte ihr eigenes Blut. Nein, jetzt war gewiß noch längst nicht der richtige Zeitpunkt für eine Rache. Sie atmete tief durch und schaute dann wieder auf. Niemand schien sich wirklich mehr um sie zu kümmern. Und so nähte sie weiter. Erst einmal mußte sie Sicherheit in den Köpfen dieser hohlen Bande einimpfen. Ihre Gedanken reichten zurück zu den beiden Wachleuten damals, als sie Learog ermordet hatte. Sie mußte einsetzen was sie hatte. Um den Finger wickeln mußte sie das Pack. Und wenn sie ihr aus der Hand fraßen, würde sie ihr Gift dort hineinstreuen. Ein grausames Lächeln umspann ihre Lippen.

Und sie nähte weiter, als sie sein Beinkleid fertig hatte. Diesmal sollte es etwas für sie selbst sein. Auf seine höhnende Frage, was sie diesmal nähen wolle, hatte sie nur gantwortet: "Ich entferne eine Beleidigung Eurer Augen". Er hatte sie aus mißtrauischen Augenschlitzen angesehen, und sie hatte hinzugefügt: "Es wird ein neues Gewand für Eure teuerste Ware". Er hatte zu Lachen begonnen, und artig hatten seine Männer in das Lachen eingestimmt, auch wenn die meisten davon ihre Antwort nicht einmal nachvollzogen hatten. Was für ein dummer Mob! Aber auch Dumme durfte sie nicht unterschätzen. Sie alle hatten Klingen, die ihr Leben nur zu rasch beenden konnten.

Am Horizont hatte sie eine Landlinie ausmachen können, aber noch bevor sie Details hatte erkennen können, wurde sie in den Frachtraum zurückgehieft. Die beiden Männer an der Winde höhnten, weil sie glaubten ihr Kapitän könne sie nicht hören. "Unser Käptn gibt seine Seeschlange wohl nicht mehr her, was? Hat sich ja auch richtig für ihn rausgeputzt." "Will wohl feine Dame für den 'feinen Herrn' sein."

Beide lachten geckernd. "Na Seeschlange? Glaubst wohl Dein feiner Herr läßt Dich irgendwann mal raus aus'm Käfig, was? Kannste aber lange warten." Es folgte noch ein fürchterlich anzüglicher Witz, der etwas mit fehlenden Beinen zu tun hatte, aber Niaji war bereits unterhalb der Bordkante und verstand nur noch die Hälfte.

Nach diesem Hafen wurde sie für ein paar Tage nicht mehr an Deck geholt. Sie fragte den Jungen leise, als er ihr Essen brachte. Erschrocken hatte er nur was von Reisegästen gemurmelt, aber noch bevor sie einen weiteren Hafen ansteuerten, wurde sie wieder hinauf befördert. Was war aus diesen Gästen geworden, fragte sie sich. Im Hintergrund hörte sie das Dröhnen der Trommel und das Knarren der Ruder. Und ihr wurde bewußt, dass es ihr trotz allem hier besser erging als den armen Schweinen unten an den Rudern.

Sie hatte sich zumindest ausruhen können, und wenn es nötig wäre, könnte sie noch immer über ihre Kräfte gebieten, wenngleich es ohne Anni nicht so leicht war. Sie hatte einen Lichtzauber unten versucht, und der war gründlich daneben gegangen. Das Licht war wie Tautropfen herab und anschließend durch die Planken gesickert, welche noch Minuten nachglommen. Sie war nur froh, dass niemand in der Zeit hinein gekommen war, denn den entglittenen Zauber hatte sie nicht vorzeitig enden lassen können.

Sie schaute auf das Meer hinaus. Wie sehr vermißte sie doch ihre Freundin. Wo mochte der knorrige Stab wohl stecken? War er auch an Bord, oder war er in der Kammer liegen geblieben aus der man sie entführt hatte? Leider konnte sie niemanden fragen, oder?

"Kannst Du lesen?", flüsterte sie hastig dem Jungen zu, als sie wieder Essen bekam. Diesmal war Obst dabei. "Nicht gut", murmelte er, stellte die Schale ab und ging wieder. Verdammt. So würde sie ihm keine Frage nach ihrem Stab zukommen lassen können.

An diesem Abend zauberte sie erneut in dem engen muffigen Lagerraum. Erst ein Licht. Mist. Keine Irrlichte. Nochmal. Jetzt stand ein fades Schimmern im Raum, und sie nahm ein Stück hellen Stoffs und begann einen Färbezauber zu wirken. Es kostete sie einige Anstrengung sich zu konzentrieren, weil sie oft genug glaubte das Geräusch der Klappe über sich zu hören. Also nahm es mehrere Nächte in Anspruch, bis sie das Bild fertig hatte. Und morgens war es schwierig neue Kraft zu schöpfen, ohne dass jemand dabei Verdachte schöpfte.

"Hast Du den irgendwo gesehen, es ist wichtig", raunte sie ihm auf das Stück zeigen zu und er schaute sie überrascht an. "Heh! Was hast Du da?"

Ein Kerl erhob sich und bewegte sich auf sie zu. Der Junge wich zurück "Ich hab ihn nur gefragt, ob er Seife hat, weil ich hier einen häßlichen Fleck in einem Stoffstück habe."

Der Kerl prustete, als ob er die für einen Witz hielt. "Unsere Seeschlange hat 'nen kleinen Fleck, oooh", höhnte er und riß ihr das Stoffstück aus der Hand. Niajis Bild heftete auf dem Stoffstück. Jetzt war alles aus. Er knüllte das Stück gänzlich zusammen und warf den so entstandenen Ball über Bord. "So gehen wir mit Dreck um! Merk Dir das". Niaji atmete auf und schloß die Augen. "Ja", murmelte sie nur, denn ohne Antwort wäre er vielleicht doch argwöhnisch geworden. Hoffentlich hatte der Junge das Bild lange genug gesehen.

"Hier, Essen so gut, wie das was beim Käptn in seiner Koje herumliegt!", rief der Junge ihr am abend zu und schaute sie für einen kurzen Moment fast flehend an. Niaji kam sein Verhalten seltsam vor. "Vielleicht frühstückt der Käptn ja bald mit seiner Seeschlange", rief ein anderer vorlaut. Er hatte nur eine Sekunde später die Spitze des Säbels des Kapitäns unter der Nase. Irgendwas wurde geflüstert. Blut spritzte. Der Mann hielt sein blutendes Gesicht fest, und dann dämmerte es Niaji endlich. Der Junge meinte nicht das Essen. Anni lag in der Kapitänskajüte.

"Ach Anni", flüsterte sie vorm Einschlafen. "Bald wird alles gut". Sie seufzte, und ihre Gedanken riefen die Erinnerung an Uramo herauf. Wie es ihm und Milanida jetzt wohl ging? Machten sie sich Sorgen? Vermißten sie Niaji überhaupt? Oder dachten sie, dass sie es sich anders überlegt hätte und geflohen wäre um nicht Zweite an seiner Seite sein zu müssen? Natürlich war ihr klar, dass sie nicht vergessen worden war. Irgendwann würde sie sicher auch wieder nach Hause zurück kommen. Sie zog die Stoffbahn wie eine Decke über sich, und hoffte einfach aufs Beste.


top   30.04.2004 by Zuul